3 September 2015| Natnjenkowa Lydia Maksowna

Schule des Lebens

Lydia Maksowna Natnjenkowa

Als der Krieg begann, war ich gerade in einem Kinderferienlager in Serverskaja. Ich war gerade einmal elf Jahre alt und hatte die dritte Klasse beendet. Der 22. Juni war für mich ein besonderer Tag, ein sehr freudiger, denn das erste Mal hatte man mir anvertraut, den Veranstaltungskalender in unserem Ferienlager zu gestalten. Jeden Tag wurde die Datumsangabe des jeweiligen Tages, also die Ziffern des Tages, des Monates und des Jahres, auf der Erde mit verschiedenen Naturmaterialien ausgelegt: aus schönen Steinchen, Moos und Blumen. Eigentlich wurde diese verantwortliche Tätigkeit nur einem aus der ältesten Gruppe anvertraut, doch da mein Geburtstag im Juni war und auf den 18. fiel, wurde mir erlaubt, diese Aufgabe zu erledigen.

Es war früh am Morgen. Ein Sonntag, der Elterntag. Ich wartete voller Ungeduld auf meinen Papa und meine Mama. Ich hatte die mir übertragene Aufgabe wunderbar erledigt, die große 22 aus kleinen weißen Steinen ausgelegt und rundherum Blumen platziert. Alles leuchtete so schön in den Strahlen der Sommersonne. Es ging mir gut, ich stellte mir vor, wie sich alle freuen werden, wenn sie mein Kunstwerk sehen. Doch als die Eltern kamen, bemerkte ich sehr schnell, dass sie überhaupt nicht fröhlich waren. Sie brachten die furchtbare Nachricht, dass der Krieg ausgebrochen war.

Normalerweise erklang jeden Morgen, wenn die Kinder aufwachten, im Lager das Lied „Der Morgen empfängt uns in seiner Frische“ oder irgendein anderes lustiges Pionerlied. Doch an diesem Tag blieben die Lautsprecher stumm. Es ertönte nur einfach der Ruf „Aufstehen“. Danach erschienen unsere Eltern. Die Erwachsenen waren diesmal alle schon sehr früh am Morgen angereist. Das hatte es so noch nie gegeben. Und alle hatten nur ein Wort auf den Lippen: „Krieg!“ Wir Kinder liefen zusammen und versammelten uns auf dem Festplatz. Schnell wurde geschaut, ob alle da waren. Schon niemand mehr hatte Lust auf Frühstück und schon gar nicht auf ein Fest, was der Elterntag sonst eigentlich immer war. Und da passierte das für mich Furchtbarste an diesem Tag. Alle liefen kreuz und quer durcheinander und so auch mitten über mein schön gestaltetes Blumenbeet mit den Datumszahlen. In all der Eile wurde nun die ganze Schönheit, die ich so sorgfältig gestaltet und für die ich mir so viel Mühe gegeben hatte, zertrampelt. Deshalb auch hatte ich für die Nachricht vom Krieg an diesem Tag eigentlich gar kein Ohr. Ich war so tief enttäuscht, dass nun all die Schönheit, die ich so mühsam hingezaubert hatte, zerstört war. Ich war so entsetzt und habe so viel geweint. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen und mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Sie meinte, dass nun auch der Feind in dieser Weise unsere Erde verwüsten wird und ich deshalb nicht wegen ein paar Kalenderzahlen jammern sollte. Meine Mutter war allein gekommen. Aber das war nichts besonderes, denn mein Vater kam selten an den Sonntagen. Er war Soldat. Doch an diesem Sonntag erzählte mir meine Mutter, dass alle Männer, und so auch alle Papas, an die Front gezogen sind.

Familie Natnjenkow, Foto 1935.

Bis zum Jahre 1937 war mein Vater Politoffizier. Wir wohnten im Haus des Kommandostabes, wo auch Blücher und Tuchatschewskij wohnten. Einmal sind Männer zu meinem Vater gekommen und habe ihn aufgefordert gegen Tuchatschewskij auszusagen und zu bestätigen, dass er ein Feind des Volkes sei. Doch mein Vater hat dies abgelehnt. Daraufhin hat man ihm sein Parteibuch weggenommen und auch seine Auszeichnungen. Auch seine Dienstränge wurden ihm aberkannt. Zu Beginn des Krieges ging er dann zur Landwehr und kämpfte mit bei der Schlacht um die Sinjawskij-Sümpfe.

In den folgenden Wochen wurde ich ein anderer Mensch. Ich war sehr nervös und weinte oft, obwohl ich bis dahin eher ein fröhliches Kind gewesen war. In unserer Familie bekam ich nun einen Spitznamen. Immer öfter wurde ich nun „unsere Heulsuse“ genannt.

Natürlich hat mich meine Mutter aus dem Kinderferienlager nach Hause mitgenommen. Dort erwartete uns bereits mein älterer Bruder Boris. Er war kurz vorher von unserer Oma, Ekatarina Anikejevna, wo er die Ferien verbrachte, zurückgekehrt. Aus Oranienbaum, wo unsere Oma wohnte, war er zu Fuß in die Stadt zurückgegangen. Unsere Oma konnte nicht kommen, denn sie arbeitete in dieser Zeit als Bäuerin für eine Garnison auf deren Feldern. Die Versorgung der Soldaten musste sichergestellt werden.

Und so begann bei uns ein völlig anderes Leben. Die Zeit verging, und schon bald hatten wir alle begriffen, dass der Krieg kein Spiel ist und dass er auch so bald nicht enden wird, wie wir es uns doch alle so sehr wünschten.

Meine Mutter arbeitete bei der Eisenbahnverwaltung, deren Büros in der Dumskaja-Straße lagen. Wir wohnten auf der Petrograder Seite, doch meine Mutter ging immer zu Fuß zur Arbeit. Dazu war sie dann auch während des Krieges gezwungen, da der öffentliche Nahverkehr völlig zusammenbrach.

Meine Mutter war eine wahre Patriotin. Sie war ganz bewusst in Leningrad geblieben, obwohl man ihr auf der Arbeit vorgeschlagen hatte, sich evakuieren zu lassen. Man hatte für die Angestellten einen ganzen Zug bereitgestellt. Sie sagte zu mir: „Wir müssen Leningrad verteidigen. Auch solche Heulsusen wie du. Wir sind hier geboren und hier werden wir auch gebraucht“.

So ging meine Mutter weiterhin zur Arbeit. Mein Bruder hatte eine Lehre in einer Berufsschule angefangen. Während der Bombenangriffe löschte er Brandbomben. Er kam oft mit Brandwunden an den Händen nach Hause.

Alle hatten großen Hunger, selbst schon zu Beginn der Blockade. Vor dem Krieg hatte meine Mutter in unserer Wohnung eine Grundreinigung veranstaltet. Wir hatten alle Lebensmittel durchgesehen und viele davon dem Hausmeister gegeben, damit dieser seine Pferde füttern möge. Aus diesem Grund hatten wir kaum etwas Essbares zu Hause.

Mein Bruder und ich bekamen Lebensmittelkarten für Unterhaltsberechtigte, nur meine Mutter eine für Angestellte. Wir versuchten uns etwas auszudenken, wie wir es anstellen könnten, damit das Brot den ganzen Tag über reicht. Ich wurde als Ökonom ausgewählt. Ich teilte das Brot in Stücke, welche wir auf unserem Kanonenofen trockneten, den mein Bruder einmal aus der Berufsschule angeschleppt hatte. Dort hatten die Schüler diese kleinen Öfen gebaut. Das Ofenrohr ließen wir durch ein kleines Fenster auf die Straße hinaushängen. Wir heizten unseren kleinen Ofen mit Büchern und Fensterrahmen. Ich erinnere mich noch, dass alte Bücher besser brannten als neue. Eichenrahmen von Bildern brannten noch länger als Bücher.

Bei uns in der Familie war es streng verboten, über das Essen zu sprechen. Oft saß ich schweigend in der Ecke und weinte, während ich mich an verschiedene Lebensmittel erinnerte. Trotzdem hatte ich es einfacher mit meinem Hunger zurechtzukommen, denn schon vor dem Krieg hatte ich immer eher wenig gegessen. Genau das war auch der Grund, warum man mir in unserer Familie die Verteilung des Brotes anvertraut hatte. Überhaupt war ich in unserer Familie die Kleinste und Schwächste und am häufigsten krank. Ich konnte nirgends groß helfen, so schwach wie ich war. Manchmal konnte ich irgendetwas anreichen oder etwas halten, wenn zum Beispiel die Fenster abgedunkelt werden mussten oder wir ganze Papierstreifen über Kreuz auf die Fenster klebten, damit die Scheiben während einer Explosion nicht herausflogen.

Unter unseren Sachen fanden wir dann auch eine kleine Hausapotheke, die wir vor dem Krieg angelegt hatten. Meine Mama hatte sofort begriffen, dass sich Glyzerin, Vaseline und Lebertran nicht nur als Arzneimittel verwenden lassen, sondern sich auch hervorragend als Lebensmittel eigneten, denn darin konnten man unser dürftiges Essen braten. Auf Lebensmittelmarken bekamen wir auch Graupen. Einmal hatte man uns eine doppelte Ration Weizen gegeben. Als unsere Truppen den Rückzug vor der Stadt angetreten hatten, hatten sie den größten Teil des Weizens angezündet. Doch nicht alles. Einen Teil davon hatten sie nur geschafft mit Kerosin zu übergießen. Dieser Weizen wurde nun unter die Menschen verteilt. Der Geruch nach Kerosin verfolgte mich danach noch viele Jahre lang. Immer, wenn ich Weizenbrei sehe, scheint es mir sofort, dass dieser nach Kerosin riecht. Als dann die Lagerhäuser von Badajew gebrannt hatten, machten sich meine Mutter und mein Bruder unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte mit zwei Blechkannen zu Fuß dorthin auf. Sie brachten irgendeine schmutzige, braune Masse mit nach Hause. Wir seihten diese durch ein Stück Stoff und ließen sie anschließend lange kochen. Was herauskam, war ein eigentlich recht leckerer Sirup, wenn man diese Masse so hätte bezeichnen können.

Dann stießen wir eines Tages auf die Stiefel meines Vaters aus seiner Zeit als Politoffizier. Wir fanden auch seine Koppel und seine Revolvertasche. Alle diese Dinge weichten wir sehr lange ein. Etwa 2-3 Tage. Das Problematischste war dabei, etwas zu finden, worin wir es einweichen konnten. Danach schnitten wir alles mit besonderen Messern, mit denen mein Bruder zu Friedenszeiten in seinem Flugzeugmodelbauzirkel Segelflugzeuge zusammengebastelt hatte, in kleine Streifen, so wie Makkaroni. Wir schnitten auf unseren teuren Möbeln, auf Eichenholz, denn dieses war hart genug. Danach kochten wir alles sehr lange. Wir lösten Tischlerleim auf, gaben etwas aus der Hausapotheke dazu, dann noch irgendwelche andere Zutaten und am Ende kam eine leckere Sülze heraus. Kurz gesagt, alle waren an der Zubereitung dieses wunderbaren Gerichts beteiligt. Wir kochten auch Suppe aus Dörfisch. Den bekam Boris in der Berufsschule. Es gab auch noch eine andere warme Mahlzeit bei uns — aus Marmelade. Auf Lebensmittelmarken bekam man in den Läden auch Melange. Das waren geschlagene rohe Eier in Gläsern. Eine wunderbare Leckerei! Wir gingen dann auch zum Markt um Sachen in Lebensmittel zu tauschen. Für eine Tafel ausgepresster Sonnenblumenkerne gab man damals ein Paar Stiefel her.

Einerseits verging die Zeit wie im Fluge. Doch andererseits hatten wir auch genug Zeit, um über unsere Situation nachzudenken. Alle hörten Radio beziehungsweise die Volksempfänger. Man nannte ihn „Teller“. Wir lauschten den Nachrichten von der Front. Unsere Truppen waren ständig auf dem Rückzug, und die Faschisten kamen immer weiter voran. Wenn an dem einen oder anderen Ort unsere Truppen wenigstens ein bisschen die Stellung halten konnten, dann begingen wir dies immer wie ein großes Fest.

Womit versüßten wir Kinder uns das Leben? Boris, ich und Ljoscha, ein Junge aus der Nachbarschaft, hörten im Radio Erzählungen und Märchen. Es gab damals so eine Schauspielerin, Maria Petrowna, die diese Märchen im Radio vortrug. Sie las auf wunderbare Weise. Ich kann mich noch bis heute an ihre Stimme erinnern. Sie hatte so eine sehr gepflegte Aussprache und eine göttliche Stimme. Auch als ich bereits erwachsen geworden war, habe ich nie wieder gehört, dass jemand so wunderbar vorgelesen hat. Dabei waren die Zeiten damals so schwer. Maria Petrowna hatte doch auch, wie alle anderen, Hunger. Am besten erinnere ich mich natürlich noch an die Märchen. Geweint habe ich aber immer bei der Geschichte „Die Kinder aus dem Untergrund“ von W.G. Korolenko. Ich war bereit jeden Tag Radio zu hören, wenn ich doch nur diese Geschichte hören konnte.

Der Stimme von Maria Petrowna lauschte ich auch nach dem Krieg. Einmal gerieten meine Tochter und ich zufällig in den Jugendpalast auf der Petrograder Seite. Dort hatte man gerade eine Lesung mit Maria Petrowna organsiert. Sie las und erzählte. Nach so vielen Jahren tat es so gut, erneut ihre Stimme zu hören und auch sie zu sehen. Sie war so geblieben, so wie wir sie in Erinnerung behalten hatten. Ein ganz und gar warmherziger und angenehmer Mensch. Sie hatte nichts von dem verloren. Wir gedenken ihrer bis heute mit besonderer Dankbarkeit.

Es kamen auch einige Briefe vom Vater. Wir dagegen hatten nichts, worauf und womit wir ihm antworten sollten. Alles Papier ging fürs Feuermachen drauf. Es gab damals wenige amtliche Rechnungen. Diese wurden schnell kontrolliert und nachgerechnet. Und das war´s. Der Vertrieb von Zeitungen wurde auch recht bald eingestellt.

Langsam begann auch in unserem Haus das große Sterben. Die Menschen starben still. Man merkte es nur daran, dass plötzlich der eine oder andere nicht mehr zu sehen war. Wenn man dann nach demjenigen schauen wollte, musste man ihn dann meist schon in ein Laken oder in eine leichte Decke einnähen. Bald darauf gingen bei uns auch die Decken aus, denn während eines Bombenangriffs war durch die Druckwelle einer Explosion ein Fenster zur Kronwerk-Straße herausgeschlagen worden. Daraufhin nagelten wir dann Decken an das Fenster, damit es nicht so auskühlte.

Bald gab es auch kein Wasser mehr. Wir mussten, um Wasser zu holen, zum Kronwerk-Kanal gehen — durch den Leninpark. Wir schöpften das Wasser mit Bechern, die an einer Kette befestigt waren. Eine Leine war ungeeignet, denn damit war es schwer das Wasser zu schöpfen. Als dann Schnee fiel, sammelten wir diesen im Park in alten Säcken und brachten ihn nach Hause, damit er dort auftaute.

Recht bald wurden dann auch die Jungs aus den oberen Klassen an die Front eingezogen. Boris Wasiljew, unser Nachbar, und mit ihm auch seine Klassenkameraden wurden an die Front geschickt und kehrten von dort nie wieder zurück. Sie waren bei Oranienbaum gefallen. Dort war so ein Hinterhalt, in dem viele junge Leute umgekommen sind.

Unsere Nachbarn, die Familie Wasiljew, waren die größte Familie im Haue. Alle starben, einer nach dem anderen. Konstantin Nazarowitsch habe ich tot im Hof entdeckt, als ich einmal  Wasser holen wollte. Er arbeitete bei „Lenfilm“. Auch als er bereits nicht mehr arbeiten konnte, ging er trotzdem dorthin — aus Gewohnheit. Und so hat er es eines Tages nicht mehr ganz bis nach Hause zurück geschafft. Er war auf der Straße zusammengebrochen und gestorben. Ich trat auf ihn zu und sah, dass ihm jemand etwas von den Wangen abgeschnitten hatte. Ich war zutiefst erschrocken und erschüttert und hatte von da an Angst, Wasser zu holen, ja überhaupt aus dem Haus zu gehen. Die Toten brachte man damals alle auf Schlitten zum Volkshaus.

Einige Nachbarn aus den oberen Etagen zogen zu uns in unsere Wohnung mit ein, denn in den oberen Stockwerken war es sehr kalt und auch sehr beschwerlich, Wasser holen zu gehen.

Zu uns zog auch unsere Tante aus dem Dorf Lebjashe. Sie wohnte bei uns nicht lange. Es stellte sich heraus, dass sie keine Lebensmittelkarten hatte. Zuerst dachten wir, dass ihr jemand diese gestohlen oder dass sie sie verloren habe. So hatten wir noch weniger Lebensmittel zur Verfügung. Wir mussten ja nun das Weinige, was wir hatten, auch noch mit ihr teilen. Später dann fanden wir ihre Lebensmittelmarken. Sie waren hinter das Futter in ihrem Mantel gerutscht. Aber es war dann schon zu spät.

Meinen Vater hatte man zu dieser Zeit in ein Lazarett gebracht. Er war eingequetscht und am Bein verletzt worden. Er schickte uns ein Geschenk: Seife und eine Flasche Pflanzenöl. Was für eine Freude war das!

Die Tante, ohne zu wissen, was sie tat, hatte jedoch die gesamte Flasche Öl ausgetrunken. Bald darauf starb sie. Sie lag eine ganze Woche lang bei uns zu Hause. Meine Mutter, die ihren Körper in ein Laken eingenäht hatte, war dabei mit Leichengift in Berührung gekommen. Es wurde ihr zum Verhängnis. Zuerst wurde ihr schlecht und bald darauf konnte sie auch nicht mehr gehen. Mir gelang es damals, ein zu dieser Zeit sehr selten zu findendes Medikament auf dem Tauschmarkt aufzutreiben. Ich habe es meiner Mutter gebracht, aber es hat ihr schon nicht mehr helfen können. Es war Kampfer Rubin. Man kann dieses Medikament auch heute noch bekommen. Es hilft hervorragend gegen jegliche Art von Bakterien.

Auch Boris wurde krank. Man nahm ihn mit — man sagte uns, ins Kinderkrankenhaus —  doch nach drei Tagen teilte man uns mit, dass er verstorben sei. Man hat es uns einfach so gesagt. Telefon gab es ja damals nicht. Man ist zu uns nach Hause gekommen und hat gesagt, dass der Junge gestorben ist. Wahrscheinlich haben sie ihn auch in das Volkshaus gebracht und in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt.

Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt noch am Leben, doch ich habe ihr nichts gesagt von Boris. Ich habe mir gedacht, wieso? — auch wenn sie es verstehen wird. Meine Mutter starb dann auch. Ich blieb allein zurück. Zu mir kam unsere Nachbarin Olga Wasiljewna. Sie sagte zu mir: „Ich lasse dich nicht allein, ich helfe dir“.

Die Lebensmittelkarten meiner Mutter tauschten wir in einen Sarg ein und man versprach uns zu helfen, meine Mutter zu beerdigen. Olga Wasiljewna bat den Hausmeister um einen Wagen. Damit brachten wir den Sarg mit meiner Mutter auf den Serafimow-Friedhof. Wir verließen das Haus sehr früh am Morgen. Als wir am Friedhof angelangt waren, wurde es gerade erst hell. Wir waren sehr langsam gegangen, denn wir waren ja völlig kraftlos. Am Friedhof angekommen bat man uns um unsere Ausweispapiere. Diese hatten wir unglücklicherweise zu Hause vergessen. So musste Olga Wasiljewna nach Hause zurückkehren. Ich blieb im Wärterhäuschen zurück. Hier bot mir der Friedhofswärter eine Boulette an. Ich antwortete ihm, dass ich kein Fleisch essen würde. Was heißt hier  „nicht essen“? Ich hatte doch einen riesigen Hunger! Doch ich fürchtete mich auch sehr, denn was für Fleisch konnte das wohl sein! Ich erinnerte mich an Konstantin Nazarytsch. Doch der Wärter beruhigte mich: „Hab keine Angst. Dort liegt ein Pferd. Es ist gestorben. Die Boulette ist aus Pferdefleisch“. Und so spendierte er mir eine Boulette und gab mir auch noch ein Stückchen Brot dazu.

Olga Wasiljewna kam erst am späten Abend. Sie gab die Papiere ab und so wurde uns eine Grabfläche zugeteilt, wo wir meine Mutter beerdigen konnten. Man half uns den Sarg ins Grab zu lassen. Ebenso fertigte man dort auch eine kleine Aufschrift an: Kulikowa, Olga Grigorjewna, geboren 1903. Das genaue Sterbedatum weiß ich schon gar nicht mehr. Es war Frühling. Ich weiß es noch, weil wir sie auf einem Wagen auf Rädern zum Friedhof gefahren haben.

Auch im Weiteren half mir diese Nachbarin sehr. Ich gab ihr meine Lebensmittelkarte und sie gab mir Brot dafür. Sie war eine sehr mitfühlende Frau. Ich werde sie bis an mein Lebensende nicht vergessen. Ich begann wieder aufzuleben, ja auch wieder zu gehen. Wieder tauschten wir einige Sachen gegen Lebensmittel ein.

Dann jedoch kam eines Tages ein Mann zu uns. Er sammelte Waisenkinder ein. Es war entschieden worden, mich in ein Kinderheim zu bringen. Dieses befand sich auf dem Kirow-Prospekt, Haus 5, in dem Gebäude, wo heute die Musikschule ist. Das war genau am 23. April 1942. Ich wurde dort desinfiziert und mit etwas zu Essen versorgt. Am 2. Mai wurde ich dann in das Kinderheim in der Kropotkin-Straße 11 gebracht. Die sogenannte „Straße des Lebens“ war schon freigekämpft und eröffnet worden. Ich weiß noch, dass sie 52 Tage andauerte und 29 Kilometer lang war. Man sagte uns, dass wir an die Wolga geschickt werden. Und so war es dann auch. Es wurde eine ganze Schar von Kindern, mehr als 200, zusammengestellt. Zuerst das Kinderheim Nr. 54 und dann Nr. 82. Uns wurden Erzieher und Lehrer zugewiesen. Eine von ihnen war Anna Jakowlewna Charakka. Sie ist bis heute noch am Leben. Jetzt ist sie 93 Jahre alt. Sie war ein Mensch von unglaublicher Güte und eine sehr schöne Frau. Sie begleitete uns zusammen mit ihrer Tochter Rita.

Am 22. Juni 1942 wurden wir in einen beheizbaren Güterwagen geladen und bis an den Ladogasee gebracht. Ich erinnere mich noch an die Bäume zu beiden Seiten und dass es nur ein einziges Gleis gab. Es gab keine Züge, die und entgegen gekommen sind. Mal hielt der Zug an, mal fuhr er weiter, denn in dieser Zeit wurden die Züge aus der Luft bombardiert.

Die Kinder im Zug waren ganz verschiedene. Es gab große und kleine. Man hatte uns alle in den Zug gesetzt und zu uns gesagt: „Wenn wir beschossen werden, dann haltet die Kleinen im Auge!“ Wir selbst hätten die Kleinen kaum irgendwohin ziehen können, aber in der Nähe waren auch immer einige Erzieher. Es war ein ganzer Güterzug voller Kinder, nicht nur unser Kinderheim. Es gab sehr viele ganz kleine Kinder. Man hatte ihnen auf ihre Kleidung und ihre Mäntelchen ihre Namen genäht, damit man wusste, wer sie waren und woher sie kamen. Oft geschah es jedoch, dass die Kleidung, wenn man die Kinder aus- und anzog, vertauscht wurde. Die meisten konnten selbst noch nicht sagen, wie sie heißen. Viele konnten gerade einmal „Mama“ sagen und das auch nicht alle. Deshalb tauchten auf der Fahrt neue Familiennamen für die Kinder auf – zum Beispiel Lena Ladoshskaja oder Doroshnaja oder Leningradskaja. Oder man gab zum Beispiel, wenn wir an irgendeinem Dorf vorbeigefahren waren, dem Kind den Namen dieses Dorfes. Auch das Alter wurde so in etwa geschätzt. Ein Arzt hat sich ein Kind angesehen und dann so über den Daumen gepeilt, wie alt es war. So wurden einige Kinder viel jünger gemacht, als sie waren. Älter gemacht hat man keinen, denn wir alle waren abgemagert und klein.

Am Ladogasee angekommen wurden wir aus dem Zug ausgeladen. Zum Glück hatte der Zug keinen Schaden genommen. Dort wurden wir alle auf einen Dampfer gesetzt. Die Älteren sollten die oberen Plätze einnehmen.

Wir überquerten den See und am anderen Ufer stießen wir — wie man so schön sagt – auf das Wunder der Wunder. Stapelweise lagen dort Dörfische übereinander. Viele von uns liefen natürlich sofort dorthin. Doch wir wurden aufgehalten, denn so etwas gehörte sich ja nicht. Doch woher sollten wir das denn wissen? Natürlich hat fast jeder von uns einen Fisch stibitzt. Seitdem liebe ich diese Sorte Fische.

Ungeachtet dessen dass auch ich Hunger hatte, sah ich nicht so grausam abgemagert aus, wie viele andere Kinder, die nur noch aus Haut und Knochen bestanden. Ich war eigentlich ganz gut in Form, vielleicht deshalb, weil ich auch vor dem Krieg schon immer wenig gegessen hatte. Natürlich hatte auch mein Organismus Ernährungsdefizite, aber scheinbar nicht so extreme, dass ich daran gestorben oder völlig abgemagert wäre. Ich war aber auch wie alle sehr blass.

Am anderen Ufer des Sees wurde ein neuer Zug zusammengestellt und wir wurden in das Gebiet von Kuybischew gebracht. Alle Kinder unseres Kinderheims wurden im Dorf Staraja Besovka, im Kreis Malyklin untergebracht. Man sorgte sich um uns und hatte Mitleid, doch ich kann nicht sagen, dass man uns mit weit geöffneten Armen empfing. Es gab dort im Dorf viele gutmütige Leute. Sie lebten alle sehr freundschaftlich miteinander. Tataren, Mordower und Tschuwaschen in mehreren Generationen. Russen lebten dort sehr wenige. Die Menschen arbeiteten meistens in der Kolchose, ihre Leben war eher einfach. Und nun wurden ihnen über Nacht 250 Kindern aufgedrückt. Wie sollten sie da plötzlich für uns sorgen und uns mit Essen versorgen? So mussten wir selbst mit Hand anlegen. Auf diese Weise jedoch lernte wir Kinder mit den Schwierigkeiten eines Lebens auf dem Dorf zurechtzukommen.

Wir wurden in eine Mordower Schule geschickt und in die Klassen aufgeteilt. Wir waren drei – Sanja Solowjew, Anja Majorowa und ich. Wir kamen zusammen in eine Klasse, in die fünfte. Meine erste Aufgabe dort war es, ein Diktat zu schreiben, nachdem ich lange dafür trainiert hatte. Natürlich habe ich sehr viele Fehler gemacht, denn es gibt ja in der Sprache der Mordower elf grammatische Fälle. Auch die Sprache klingt eher grob. Trotzdem strengte ich mich an in der Schule. Ich hatte auch eine besondere Motivation, denn man hatte uns, als wir in der sechsten Klasse waren, gesagt, dass diejenigen, die mit „Ausgezeichnet“ die Schule beenden und in Leningrad gemeldet sind, dorthin zurückkehren werden. Die anderen wollte man nach Uljanowsk schicken oder in noch andere Städte, um einen Beruf zu lernen oder zu studieren. Ich wollte aber in keine andere Stadt und sagte mir: „Auch wenn ich nur als Putzfrau eine Anstellung finde, ich kehre unbedingt in meine Heimatstadt zurück“. Natürlich hatte ich mir auch schon überlegt, was ich einmal werden wollte. Zunächst war es Eisverkäufer, um so viel Eis essen zu können, wie ich will. Dann wollte ich Schauspielerin werden. Ich wollte von Stadt zu Stadt reisen und immer wieder etwas Neues und Interessantes zu Gesicht bekommen. Ich stellte mir vor, dass das doch ein sehr einfacher Beruf sei. Man lernt seine Rolle auswendig, sagt sie auf und das war´s dann auch schon. Als ich dann gesehen habe, wie Kinder krank waren — zwei Mädchen von uns sind gestorben – wollte ich Arzt werden.

Im Kinderheim organisierte ich — natürlich zusammen mit unserer Erzieherin Anna Jakovlewna, sie beschäftigte sich mit Literatur – ein Puppentheater. Wir nähten Puppen und inszenierten kleine Stücke. Wir gingen damit sogar auf kleine Tourneen im Kreis und verdienten uns so unser eigenes Geld. Überall gab man uns zu Essen und Kleidung. Man machte uns manchmal auch kleine Geschenke.

Auch im Dorf gingen wir älteren Kindern von Haus zu Haus und boten unsere Hilfe an. Manchmal musste der Boden gewischt werden, woanders gab es andere Kleinigkeiten zu tun.  Ich war richtig gut im Bodenwischen. Ich kratzte die Bretter mit einem Messer sauber, wie mit einem Hobel. So glänzte dann der Boden wie Eigelb.

Schuhe hatten wir damals keine. Wir liefen alle barfuß. Irgendetwas zum Anziehen brauchten wir aber. Der Winter rückte immer näher und es wurde kalt. So verteilten wir die Aufgaben. Anetschka Majorowa begann in der Küche zu arbeiten, Iwan Sawjalow fand in einer Fabrik eine Anstellung. Alle anderen halfen bei den Wintervorbereitungen in der Kolchose.

Einen Filzumhang nähten wir uns selbst, man hatte uns Stoff dazu gegeben. Ebenso auch Wintermützen, wo man die Ohren herunterklappen konnte. Eine Schneiderin hatte uns beim Zuschneiden geholfen. Alles andere haben wir dann selbst gemacht, ja auch diejenigen, die überhaupt nicht nähen konnten. Die mussten es eben lernen.

Das Kinderheim war ein sehr gutes. Alle Kinder waren im Grunde genommen gute Menschen. Natürlich war alles nicht einfach. Auch das Essen mussten wir uns selbst organisieren. An Feiertagen durften wir wählen, was wir essen wollten – irgendeinen Mischmasch aus Fleisch oder Piroggen. Für die Piroggen brauchten wir Mehl und für jede einen Esslöffel Fleisch als Füllung. Wir mussten uns immer entscheiden, entweder den Mischmasch mit Gehacktem oder kleine Piroggen. Alle wollten meistens den Mischmasch. Brot gab man uns auch. Es war aber aus Hirse gebacken, man kann so ein Brot schlecht schneiden. Deshalb zerfiel oft der ganze Leib in kleine Krümel. Einmal schrieben wir an Stalin einen Brief, dass die Kinder aus Leningrad nach der Blockade immer noch Hunger leiden. Warum hatte man uns also damals aus der Stadt gebracht, wenn wir dann in der Evakuation in eine fast ebensolche Situation geraten sind? Als Antwort schickte man uns Schokolade und zwei Sack Graupen, die wir dann den Kranken gaben.

Im Kinderheim geriet ich einmal ins Krankenhaus. Das war so: Aus Mangel an Lebensmitteln sammelten viele — so auch in unserem Dorf — verfaulte Ähren. Diese aßen wir dann. Daraufhin jedoch erkrankten viele an septischer Angina. Das bedeutete, dass auch das Blut angegriffen war und auch viele andere Organe. Oft konnte einem Menschen dann nicht mehr geholfen werden. Ganze Dörfer starben. In unserem Dorf starben zwei Drittel der Bevölkerung an den Folgen dieser Angina.

Man brachte mich und Anetschka Fjodorowna, die an etwas anderem erkrankt war, auf einem Pferdeschlitte ins Krankenhaus. Das Pferd rannte, was das Zeug hielt, denn hinter uns liefen die Wölfe. Man konnte ihr Heulen hören. Damals habe ich das erste Mal gesehen, wie Wolfsaugen in der Dunkelheit leuchten — wie kleine Lampen.

Anjetschka wurde wegen Diabetes eingeliefert. Doch dann stellte sich heraus, dass sie an einer offenen Form von Tuberkulose erkrankt war. Eine Zeit lang lagen wir auf zwei Pritschen nebeneinander. Ich habe mich aber nicht angesteckt. Wir aßen zusammen aus einer Schüssel, denn bei uns hatte ja keiner sein eigenes Geschirr. Sie aß wenig. Ich habe immer alles, was sie übrig gelassen hatte, ausgegessen. Hier im Krankenhaus erinnerte ich mich erstmals wieder daran, dass es ja auch Rote Bete gab und Möhren und auch Butter. Vielen, die im Sterben lagen, wurden diese Leckereien gebracht. Doch diese konnten all das schon gar nicht mehr essen. So teilten sie es mit uns und halfen uns somit am Leben zu bleiben.

Auf dem Heimweg saß ich neben dem kleinen Sarg von Anjetschka. Sie war gestorben. Auch ein anderes von unseren Mädchen war gestorben — an Bauchtyphus. Danach erkrankte ich an Tropenmalaria und an Krätze. Doch alle diese Krankheiten überstand ich. Ich war eine von den Zähesten.

Man gab uns dann ein Pferdchen, Rjabina, das kaum laufen konnte. Wir holten mit seiner Hilfe Wasser aus dem Flüsschen Tscheremschan heran. Bald darauf jedoch starb das arme Tier an Altersschwäche. Man gab uns dafür ein neues Pferd — Orlik. Früher hatte es den Direktor der Kolchose gefahren. Wasser wollte es für uns nicht heranschleppen. Doch dann gewöhnte es sich daran.

Für uns war das alles eine richtige Schule fürs Leben. Wir waren solche schwächlichen Stadtkinder, die plötzlich auf einem Dorf überleben mussten. Natürlich halfen wir uns gegenseitig, die Erzieher und die Kinder. Es gab unter uns auch Bösewichter, aber nur wenige. Einmal kam eine Frau zu uns ins Kinderheim. Sie sagte: „Los, gebt eure Sparbücher her!“ Fast alle Kinder hatten ein Sparbuch, das ihre Eltern für sie angelegt hatten. Es waren, wie mir jetzt wieder einfällt, die wo jedes Kind 3000 später herausbekommen sollte. Ich hatte noch das Sparbuch meines Bruders. Nachdem wir ihr unsere Sparbücher gegeben hatten, haben wir weder diese Frau noch unsere Sparbücher jemals wiedergesehen.

Ich erinnere mich noch an die Krankenschwester Nina Iwanowna. Sie war eine herzensgute Frau und hat uns überall geholfen. Ich hatte mich zweimal verletzt, beides Mal wegen dem Pferd. Einmal musste ich am Pferd vorbeigehen. Es weidete gerade auf der Wiese. Ich dachte, es wäre besser, hinten um es herumzugehen, denn vorne könnte es beißen. So trat ich von hinten an es heran. Doch da gab es mir plötzlich einen solchen Tritt, dass ich fast eine richtige Zirkusnummer hinlegte. Wie viele Male ich mich überschlagen habe, weiß ich nicht mehr, doch die Abdrücke auf meinem Körper waren nicht ohne! So hatte ich es aber gelernt, dass man an ein Pferd immer von vorne herantreten sollte. Nina Iwanowna kümmerte sich um mich. Es gab noch eine andere, ähnliche Situation. Ich wollte ausprobieren, wie es ist, zu reiten. Auf dem anderen Pferd, auf Orlik. Bis zur Tränke wollte ich nur. Zum Anfang war das Tier nicht daran gewöhnt gewesen, jemanden auf sich reiten zu lassen, denn den Direktor der Kolchose hatte es immer in einem Wagen hinter sich hergezogen. Ich stieg aber auf, setzte mich auf den Pferderücken — wohl gemerkt, mit einem Gewicht wie eine Fliege! Zunächst hatte das Tier noch keine Einwände. Doch dann, als wir ans Ufer gelangt waren – es gab dort ein Steilufer – ging Orlik plötzlich nieder auf die Knie und ich purzelte Kopf über den Abhang hinunter und renkte mir das Knie aus. Das Pferd kam danach auf mich zu, beugte sich zu mir herunter und schaute mich an. Es leckte mich sogar. Ich war aber nicht böse auf Orlik. Ich sagte nur: „Was hast du denn jetzt nur angerichtet?“. Aber da kamen auch schon die anderen Kinder zusammen mit der Krankenschwester angelaufen. Sie beträufelte die Stelle, wo es weh tat, mit Streptozid, denn andere Medikamente gab es nicht. Sie umwickelte mein Knie mit ihrem Kopftuch. Es heilte schnell und hat dann auch nie wieder wehgetan. Sie war eine wunderbare Krankenschwester und gleichzeitig auch unser Arzt. Solche Menschen wie Anna Jakowlewna und Nina Ivanowna sind, wie es in einem Gedicht so schön heißt, „nicht nur Bruder und Schwester, sondern alle Verwandten gleichzeitig“. Und was für großartige Verwandten!

In dem Dorf verbrachten wir ganze drei Jahre. Dann wurde uns eines Tages mitgeteilt, dass wir nach Hause könnten, aber nicht alle, sondern nur die, die in Leningrad noch Verwandte haben. „Schreibt ihnen einen Brief!“ – hatte man uns aufgetragen. Also schrieb ich meinem Vater an die Front: „Komm bitte her und hol mich hier ab!“ Zu dem Zeitpunkt, als unserer Abreise aus dem Kinderheim geplant war, ist er dann auch wirklich gekommen und hat bei der Organisation der Rückführung der Kinder nach Leningrad geholfen. Zuerst sind wir mit meinem Vater jedoch nach Moskau gefahren und dann nach Kaliningrad im Moskauer Gebiet, wo er in einer Militärgarnison Dienst tat. Dort wurde ich als Tochter des Heeres aufgenommen. Ich hatte keine warme Kleidung, nur ein Paar Latschen, einen Sommerpullover und einen kurzen Mantel. Wo sollte man aber wärmere Kleidung in dieser Zeit kaufen? In der Garnison nähte man mir ein Paar Stiefel und einen Mantel aus einem Uniformmantel meines Vaters. Man gab mir auch eine kleine Schiffchenmütze. Das Heer meines Vaters zog schnell von Ort zu Ort. Er war dort Flugzeugmechaniker. Ich wurde der Krankenschwester zugeteilt und da ich vom Charakter her kein Schmarotzertyp war, versuchte ich ihr hier und da behilflich zu sein. Ich räumte auf und erledigte andere Nebenarbeiten. Ich lernte es sogar, den Soldaten, wenn einer kam und darum bat, neue Kragenblenden einzunähen. So verging die gesamte zweite Hälfte des Jahres 1944.

Im Mai 1945 war ich auf dem Roten Platz. Ich war gemeinsam mit meinem Vater bei der Siegesparade dabei. Ich habe gesehen, wie alle überglücklich lächelten, lachten und vor Freude weinten, wie sich alle in den Armen lagen, einander gratulierten und Lieder sangen. Am Abend gab es dann das unvergessene Feuerwerk. Alle warfen ihre Mützen in die Höhe und schrien „Hurra!“

Ich bin all den gutmütigen Menschen so dankbar, denen ich auf meinem Wege begegnet bin: Olga Wasiljewna Sirota, Anna Jakowlewna Charraka, Nina Iwanowna und allen anderen. Denn sie haben mir, ohne es mir aufzudrängen, beigebracht, wie es zu leben gilt: mit den Menschen und seinem Gewissen in Eintracht verbunden und jegliche Form von Gleichgültigkeit zu fürchten. Sie hatten gehofft, dass auch ich dies begreifen möge. Sie haben mir beigebracht, wo man besser schweigt und sich abfinden muss mit einer Situation und zurückstecken. Sie haben mir aber auch gezeigt, wo man laut seine Meinung sagt und seine Ansicht durchsetzen muss. Sie haben mir vorgelebt, den Menschen zu helfen und das Gute zu tun. Anna Jakowljewna kann sich bis heute an alle erinnern. Wir telefonieren immer noch miteinander. Natürlich ist es jetzt nicht einfach, dass wir alle zusammen kommen, denn wir sind alle sehr alt geworden. Doch wir haben alle noch Kontakt miteinander und gratulieren uns gegenseitig an Feiertagen. Herzensgüte ist wirklich das Heil der Welt, weil man ohne diese nicht leben kann.

Das Gespräch wurde geführt und das Material für world-war.ru aufbereitet von Marina Dymowa

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

 

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