2 Juni 2015| Redaktion

Runder Tisch: „Die Rolle der Orthodoxen Kirche in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“

Am Montag, den 25. Mai hat das Internet-Portal „Wahre Erzählungen aus dem Krieg“ in der Turgenjew-Bibliothek eine Gesprächsrunde zum Thema: „Die Rolle der Orthodoxen Kirche in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges“ organisiert. An der Arbeit dieses Gesprächskreises haben teilgenommen: Erzpriester Alexander Iljaschenko, Professor Alexej Konstantinowitsch Swetosarski, Priester Thomas Diez und Tatjana Aljoschina.

Erzpriester Alexander Iljaschenko, Professor Alexej Konstantinowitsch Swetosarski, Priester Thomas Diez und Tatjana Aljoschina

In den Vorträgen wurden folgende Themen angesprochen: Die Kirche und das Volk, die Kirche und der Patriotismus, die Kirche als Organismus und als Organisation in der Zeit vor und während des Krieges und der Widerstand gegen den Faschismus in Europa. Eine Videoaufzeichnung und der Text der Diskussion der Gesprächsrunde sind hier nun für Sie einsehbar.

 

Tatjana Aljoschina: Nun gehen wir zum Gesprächsteil über. Eine Frage, die uns für unsere Diskussion schriftlich eingereicht worden ist, lautet: „Kann man sagen, dass die Abkehr, bzw. Abwendung des russischen Volkes von der Orthodoxie der Grund für den Ausbruch der Großen Vaterländischen Krieges war?

Erzpriester Alexander Iljaschenko: Mir scheint, dass man, wenn man auf diese wichtige und grundlegende Frage eine Antwort geben möchte, die Situation in der Welt und insbesondere das Verhältnis zum Christentum in der Welt vor dem Krieg betrachten muss, denn überall hatten sich die Menschen von Christus abgewandt. Es ist interessant zu sehen, wie dies in den einzelnen Ländern vor sich gegangen ist. Es ist bekannt, dass es zum Beispiel in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg Demonstrationen gegeben hat, bei denen Menschen Darstellungen von Drachen und anderen gotteslästerlichen Symbolen getragen haben. Nach dem Ersten Weltkrieg ist nicht nur das russische Imperium zusammengebrochen, sondern auch das preußische, das österreich-ungarische und das osmanische. Der Staatsform der Monarchie war in Europa ein entscheidender Schlag versetzt worden. Unser großer Landsmann, der gezwungen war nach Amerika zu emigrieren – die Rede ist von dem berühmten Flugzeugbauer Iwan Iwanowitsch Sikorski – hat gemeint, dass Christus im Westen entweder einfach ignoriert oder aber höflich übergangen wird. Man habe sich dort all dem verschrieben, wovon Er, Christus, sich losgesagt hat.

Man kann also sagen, dass sich die gesamte Welt von Christus abgewandt hat. Jetzt stellen wir uns einmal vor, was gewesen wäre, wenn die Sowjetunion in diesem Krieg verloren hätte? Das Resultat wäre ein gefestigtes Europa mit einer Person, mit Hitler, an der Spitze. Hitler hat gemeint, dass er sich nach dem Krieg die Kirche vornehmen wird. Er brauchte sie nicht. Das Christentum war abgestorben und veraltet. In einem der Tischgespräche Hitlers, die von Henry Peaker für die Nachwelt erhalten worden sind, hat Hitler gemeint, dass er nichts gegen den Glauben in Russland habe, nur sollte es in jedem Dorf eine eigenständige Kirche geben, wie bei den Negern in Afrika. Möge doch jeder glauben, doch bitte jeder auf seine Weise. Das gesamte Europa also wäre faschistisch. Die deutschen Geheimdienste wären stark präsent in Südamerika, sehr viele Menschen in Nordamerika hätten Hitler unterstützt. So, wie zum Beispiel der berühmte Henry Ford, der Begründer des Automobilimperiums Hitler unterstützt hat und nicht nur er. Ebenso der Professor Iwan Iljin und auch der Metropolit Nestor Anisimow hat sich in den 30-iger Jahren sehr positiv zu all dem geäußert, was in Deutschland in den 30-iger Jahren vor sich ging. Weil noch vieles nicht bekannt war und es die Gaskammern noch nicht gegeben hat. Es war aber sichtbar, dass sich eine sehr starke Macht formiert hat, die Ordnung bringt, gegen die Arbeitslosigkeit vorgeht und die Kriminalität in den Griff bekommt.

Wenn man einmal annimmt, das die Sowjetunion den Krieg gegen das faschistische Deutschland verloren hätte, dann hätte sich geistliche Finsternis – ich unterstreiche, nicht ökonomische, sondern geistliche Finsternis – über die gesamte Welt verbreitet. Das russische Volk dagegen hatte sich eben nicht von Christus abgewandt. Ein Beweis dafür sind die vielen Millionen Menschen, die so selbstlos und aufopfernd ihr Leben hingegeben haben. Das russische Volk hat gezeigt, wie rein und groß sein christlicher Glauben ist. Man kann es deshalb als ein Opfer bezeichnen, das dargebracht worden ist, um die Welt zu bewahren und sie von dieser gotteslästerlichen und finsteren Macht zu erlösen, die sonst damals die gesamte Welt erfasst hätte. Deshalb meine ich, dass der Heldenmut des russischen Volkes gar von kosmischer Bedeutung ist. Dieser Heldenmut der russischen orthodoxen Menschen war es! Auch wenn sich vielleicht der eine oder andere nicht als orthodox gesehen hat, so war es aber doch der Sinn dafür, sich aufzuopfern, es war die Tradition, das Allgemeine über das Private zu stellen, es war der Sinn für Heldentum und jene Weite in den Ansichten und jene Großzügigkeit, die die russischen Menschen in den Jahren des Krieges an den Tag gelegt haben, was im Ganzen bedeutet, dass es ein Opfer war, das dargebracht worden ist für die Erlösung der gesamten Welt von der finsteren faschistischen Macht.

Deshalb ist es meiner Ansicht nach völlig falsch zu meinen, dass nur das russische Volk sich von Christus abgewandt habe. Erstens hat es sich nicht abgewandt, obwohl es natürlich solche gab, die sich abgekehrt haben, natürlich, denn die Propagandamaschinerie leiste das ihre. Doch im Ganzen hat sich das russische Volk, wie es die Ereignisse in der Geschichte zeigen, nicht abgewandt, so wie es andere Völker getan haben. Das russische Volk war es, was die ganze Welt vor den furchtbaren Folgen eines Sieges des faschistischen Deutschlands bewahrt hat.

Tatjana Aljoschina: Danke! Gibt es noch andere, die etwas dazu sagen möchten?

Alexej Konstantinowitsch Swetosarski: Ich denke, dass dies sehr geradlinig und schematisch ausgedrückt ist, denn ein Krieg, vielmehr der Grund eines jeden Konfliktes besteht in unserer Sündhaftigkeit. Es ist nicht möglich, dass die Welt ohne Kriege existiert. Man kann sie aufschieben, wie es jetzt, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, geschehen ist. Ein halbes Jahrhundert hat es keine globalen Konflikte gegeben. Das ist die eine Seite. Ist aber andererseits nur unser Volk durch den Krieg bestraft worden? Wie lässt sich das damit vereinbaren, dass der Herr unserem Volk den Sieg geschenkt hat? Hier tun sich eine Vielzahl von Fragen auf. Wenn wir hier nun wirklich eine gewaltige Diskussion beginnen wollen, dann lassen Sie uns die Frage so stellen: „Sind nicht die Oktober- und die Februarrevolutionen von 1917 eine Frucht der Sündhaftigkeit der russischen Gesellschaft vor der Revolution gewesen?“

Andrej Igorewitsch Makarow: Wenn wir davon sprechen, dass im Krieg der Geist der Orthodoxie gesiegt hat, gibt es da nicht einzuwenden, dass das gleiche Volk in den Jahren 1937 und 1938 Kirchen zerstört hat? Was geschah nach dem Krieg? Hatte dieser orthodoxe Geist eine Fortsetzung? Wir wissen, dass sofort nach dem Krieg ein großer Teil der kirchlichen Hierarchie gebrochen worden ist. Kann man in den 70-iger, 80-iger und 90-iger Jahren beim sowjetischen Volk oder russischen Volk von dem gleichen geistlichen Niveau sprechen, wie während des Krieges, von dem wir gesprochen haben? Ist etwa alles verloren gegangen?

Erzpriester Alexander Iljaschenko: Sie stellen sehr interessante Fragen. In der Tat ist jede Frage im Grunde genommen ein Problem, dass sehr genau untersucht werden muss. Alexej Konstantinowitsch Tolstoj hat gemeint: Es gibt solche und solche Bauern. Dem aber, der seine Ernte nicht vertrinkt, gebührt meine Achtung“. „Das Volk“ — das ist ein sehr vielschichtiger Begriff. Es ist deshalb wichtig festzustellen, was für das Volk im gegebenen Zeitpunkt von besonderer Bedeutung war. Wir können sehen, dass 1941 für das Volk das Prinzip des Christentums von zentraler Bedeutung war. Nach dem Krieg kam es zu sehr grundlegenden Veränderungen in der Struktur der sowjetischen Macht und im Verhältnis dieser zum Volk. Einmal hat Stalin auf einem Bankett anlässlich des Sieges sein Glas erhoben und hat etwas Positives über das russische Volk gesagt. Heute jedoch wird das Wort „russisch“ mit Chauvinist und Aggressor gleichgesetzt. Wenn du sagst: Ich bin Russe, dann bedeutet das eigentlich, du bist kein guter Mensch. Sie haben gesagt, „das Volk hat die Kirchen niedergerissen“. Aber in der Tat war es so, dass einer auf die Kuppel gestiegen ist, um das Kreuz herunterzureißen, und alle anderen haben voller Entsetzten zugeschaut. Einer meiner Bekannten hat einmal eine ältere Bäuerin gefragt: „Warum hab ihr euch nicht dagegen gewehrt?“ – „Wieso? Wir sind doch dagegen angegangen. Unsere Männer sind aufgestanden und haben die Randalierer davongejagt. Dann jedoch ist ein Strafkommando erschienen und hat alle, die Widerstand geleistet haben, erschossen. Wieder sind welche gekommen, die die Kirche zertrümmert haben. Zwei sind dagegen angegangen und beide wurden erschossen. Und dann war schon niemand mehr da, der sich denen noch in den Weg stellen konnte“. Und die, die geschossen haben, waren Schützen aus Lettland oder Chinesen.

Andrej Igorjewitsch Makarow: Das ist jenes System in seiner reinsten Form, wenn zwischen Volk und Machthabern ein tiefer Graben besteht.

Erzpriester Alexander Iljaschenko: Natürlich! Die, die an die Macht gekommen sind, waren doch in keiner Weise die Vertreter des Volkes: Genosse Trotzki wurde aus Amerika ins Land gebracht und Genosse Lenin aus der Schweiz.

Alexej Konstantinowitsch Swetosarski: Mann muss verstehen, dass es verschiedene Machthaber gab und deshalb auch die Politik bezüglich der Religion unterschiedlich war. 1924 haben überall die Glocken geläutet, und die Kirchen waren geöffnet. Die kirchlichen Feiertage waren in den Kalendern vermerkt. Es ist ein anderes Thema, dass sie nach dem Neuen Stil, im Geiste der Erneuerer, eingetragen waren. Geschlossen hatte man nur die Klöster. Einige Klosterkirchen, zum Beispiel die des Sretenski-Klosters in Moskau, waren als Gemeindekirchen geöffnet.

Es war nach der Kampagne, die Kostbarkeiten aus den Kirchen zu rauben, und nach den ersten blutigen Opfern eine Zeit relativer Sicherheit. Dann begann die Phase der Neuen Ökonomischen Politik. Wenn also Kompromisse gemacht wurden in der Wirtschaft, dann geschah dies entsprechend auch in der Ideologie. Es gab verschiedene Perioden. Eben in dieser soeben beschriebenen Periode hat Sergij sein Sendschreiben verfasst. Niemand stand mit einer Pistole in der Hand hinter ihm, obwohl auf ihn auf ärgste Weise Druck ausgeübt wurde. Doch er sah, dass das kirchliche Leben weiterging. Deshalb war es notwendig, gute Beziehungen aufzubauen und sich im Rahmen der Gesellschaft, wie sie eben ist, einzurichten. Es gab Bischöfe, die der sowjetischen Macht entschiedener und aggressiver entgegengetreten sind. 1928 jedoch änderte sich dann die Politik der sowjetischen Machthaber. Die Neue Ökonomische Politik wurde zurückgefahren, und es begann die Kollektivierung. Die Dorfgemeinschaften wurden zerstört, deren Zentrum die Kirche war. Es begann die Industrialisierung. Die Menschen zogen zuerst dorthin, dann dorthin und wurden auf diese Weise ihren Wurzeln entrissen. Worin aber waren die 60-iger Jahre noch grausamer als die 30-iger? Darin, dass meine Generation mit Büchlein über lustige Roboter erzogen worden ist. Ich danke meinen Eltern, dass sie sie mir nicht vorgelesen haben. Es ging um Roboter! Gewohnt haben wir in Betonklötzen, völlig entfremdet und ohne zu wissen, wer wofür von Nutzen ist. Wir hatten natürlich eine Großmutter. Aber die wohnte irgendwo auf dem Dorf. Sie hatte auch Ikonen und hat da irgendetwas gemurmelt. Nach Chruschtschow geriet unsere geistliche Tradition völlig in Vergessenheit.

Andrej Igorjewitsch Makarow: Darf ich noch eine Frage stellen?

Tatjana Aljoschina: Ja, natürlich.

Andrej Igorjewitsch Makarow: Wenn ich noch einmal auf den erwähnten Trinkspruch von Stalin zurückkommen darf, stellt sich mir die Frage: „War er sich im Klaren darüber, dass er das russische Volk vom weißrussischen, ukrainischen und georgischen Volk getrennt gemeint hat?“

Erzpriester Alexander Iljaschenko: Ich denke, dass es immer unangebracht ist, zu sagen, was der eine oder andere gedacht hat. Man kann einem Menschen nicht in die Seele schauen. Ich verstehe unter dem Ausdruck „russisches Volk“ etwas Allgemeines. Wenn er irgendwo seine Gedanken direkt ausgedrückt hat, was ich nirgends gefunden habe, dann kann man irgendwie darüber sprechen, was er wohl gemeint hat. Ich möchte bemerken, dass sie alle damals sehr laviert und ständig ihren Standpunkt geändert haben. Sie haben sich sehr an der Konjunktur und am Westen orientiert. Eine Masse äußerer und innerer Faktoren haben auf sie eingewirkt, welche die bekannt sind und solche, die wir nicht kennen. Deshalb kann man etwas so sagen und im nächsten Moment schon anders denken und auch von sich geben.

Tatjana Aljoschina: Die Anrede „russisches Volk“ ist ein gewisser Rückgriff auf das russische Zarenreich. …

Erzpriester Alexander Iljaschenko: Ja. Stalin hat ein Imperium gewollt und das russische Volk unterscheidet sich in der Tat dadurch, dass seinem Selbstverständnis der Gedanke des Imperiums eigen ist.

Alexej Konstantinowitsch Swetosarski: Man muss Stalin zugute halten, dass er nach den Krieg seine Politik der Kirche gegenüber nicht verändert hat. Nach seinem Tod haben unter seinen Nachfolgern, der kollektiven Staatsführung vor N.S. Chruschtschow, im großen Ausmaße keinerlei Repressionen gegen die Kirche stattgefunden. Es wurden einzelne Personen verhaftet, der eine oder andere hatte von einer Zeitung im besetzten Gebiet Verse abdrucken lassen. So etwas hat es gegeben. Jemand wurde denunziert, weil er ein Tagebuch führte. Nestor von Kamtschatka hat sich der Grenze der Sowjetunion genähert und mit der Faust gedroht. Zu dem noch hat er in sämtlichen antisowjetischen und faschistischen Gruppierungen mitgemischt. Was hatte er anderes zu erwarten? Im Fernen Osten gab es damals eine russisch-faschistische Partei, der K.B. Rodzaewskij vorstand. Doch sofort, nachdem die Rote Armee gekommen waren, wurde telegrafiert: „An den Genossen Stalin, den obersten Führer. Danke für die Befreiung vom japanischen Militarismus …“. Die Weißgardisten haben die Truppen japanischer Offiziere entwaffnet, verhaftet und ausgeliefert.

Danach sind alle diese Bischöfe nach Russland zurückgekehrt. Außer Johannes von Shanghai. Niemand wurde verhaftet außer Nestor von Kamtschatka. Jeder Fall muss sehr individuell betrachtet werden, besonders nach dem Krieg. Es gab Repressionen gegen die sogenannten „wahrhaft Orthodoxen“. Doch im Ganzen gesehen hat sich die Politik nicht geändert. Stalin hat nach 1948 keine neuen Kirchen eröffnen lassen, aber auch keine geschlossen. Das, was er versprochen hatte, wurde eingehalten. 1945 hatte er zugesagt, das Sergius-Dreifaltigkeitskloster zurückzugeben. Doch nicht sofort. Es musste erst ein Kulturhaus gebaut werden, damit die Maria-Schutz und Fürbitte-Kirche hergegeben werden konnte. Bis in die 70-iger Jahre hat es gedauert, bis alle Gebäude übergeben worden sind.

Tatjana Aljoschina: Bitte noch eine Frage, die ein Leser unseres Portals an uns gerichtet hat und die ich gerne vorlesen möchte: „In wieweit kann man während des Krieges ganz objektiv von Wundern sprechen? Welches war Ihrer Meinung nach während der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges das größte Wunder?

Alexej Konstantinowitsch Swetosarski: Das bedeutendste Wunder, denke ich, ist die Tatsache, dass das Volk jenen Idealen, in denen es seit der Taufe der Rus 1000 Jahre lang hindurch erzogen worden war, treu geblieben ist. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Momente dabei. Warum hat man die Kirche kaputt gemacht? Wie sich die Menschen der älteren Generation zu meiner Zeit noch erinnern haben — Menschen, die heute schon nicht mehr unter den Lebenden weilen —  waren die Leute damals nicht sehr gebildet. Man hatte sie nichts lernen lassen. Warum ist man so mit ihnen verfahren?  Man hätte sie doch einfach hinter eine Schulbank setzen und ihnen lesen und schreiben beibringen können. Wovor hatte man Angst gehabt? Und warum haben das dann die Bolschewiki übernommen? Weil sie ihnen zeigten wollten, dass es da eine Leuchte mit dem Namen Iljitsch gibt und Radio, und dass Gott überhaupt nicht existiert. Verstehen Sie, dass es sehr leicht ist, einen blinden Menschen zu führen? Kann man hier jemandem einen Vorwurf machen? Doch trotzdem ist im Volk im Ganzen gesehen jenes innere orthodoxe Konzentrat, jener Sauerteig, erhalten geblieben. Natürlich sind sofort alle „Ratten“ hervorgekrochen. Die älteren Leute erinnern sich noch sehr gut: Spekulanten und Habgierige und Kriminelle sind aus ihren Löchern hervorgekommen. Mein Vater, der an der Front war, hat erzählt, dass es solche gegeben hat, die Soldaten aus dem oberen Bett auf den Boden gerissen haben, um sie munter zu kriegen und angefangen haben sie zu drangsalieren. So wie im Straflager. Doch man ist sofort gegen solche vorgegangen und hat ihnen in einfachen Einheiten beigebracht, was Disziplin bedeutet. Aber wir sind vom Thema abgekommen. Das hauptsächliche Wunder war, dass der orthodoxe Geist erhalten geblieben ist.

Erzpriester Alexander Iljaschenko: Erstens hat es auf den Pfaden des Krieges ständig Wunder gegeben. Einige Leute haben das als völlig offensichtlich begriffen. So zum Beispiel der bereits verstorbene Erzpriester Gleb Kaleda, ein Mensch von hoher geistlicher Gesinnung. Er hat gemeint, dass er immer wieder zu der festen Überzeugung gekommen ist, dass sein Leben in den Händen Gottes ruht. Wenn es Gott gefällt, dass ich lebe, dann werde ich am Leben bleiben. Nicht der Schützengraben ist es, der mir das Leben rettet.

Können Wunder etwas beweisen? Sie beweisen nur, dass der Herr barmherzig ist, ohne auf die Nationalität eines Menschen zu schauen. Er ist genauso barmherzig einem russischen Soldaten gegenüber, wie auch einem deutschen. Er ist zu allen barmherzig. Das kann man aus den Erinnerungen auf unserer Seite gut herauslesen. Meiner Ansicht nach könnte man dem, was Alexej Konstantinowitsch gesagt hat, noch hinzufügen, dass das hauptsächliche Wunder in diesem Krieg der Sieg war, den der Herr dem russischen Volk geschenkt hat und keinem anderen.

Tatjana AljoschinaDanke! Vater Thomas, haben sie eine Anmerkung zu dieser Frage?

Priester Thomas Diez: Ich bin völlig einverstanden mit Vater Alexander und Alexej Konstantinowitsch. Mir scheint, dass das größte Wunder darin besteht, dass so viele russische Menschen gläubig geworden sind. Ein Wunder ist auch, dass die Russische Kirche überleben konnte und die Möglichkeit bekommen hat, sich wieder neu zu formieren. Aus Deutschland kenne ich keine ähnlichen Geschichten, dass deutsche Soldaten, während sie im Krieg waren, zum Glauben gefunden haben — mit Ausnahme derer, die in Russland gekämpft haben und von dort die Sehnsucht nach Russland mit nach Hause gebracht haben.

Erzpriester Alexander Iljaschenko: Ja, das ist interessant, was Vater Thomas gerade gesagt hat. Auch das klingt in unseren Erzählungen an: zärtliche Gefühle ungeachtet all der Grausamkeit des Krieges und der schweren Verluste auf beiden Seiten.

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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