1 Dezember 2008| Korneeva V. (übersetzt von Kisseljowa Valeria)

Ljudotschka

Im Jahre 1938 schloss ich die medizinische Fachschule ab und arbeitete in einer Fabrikpoliklinik in Ljubertsy. Am fuenften Kriegstag berief man mich zur Armee ein, doch dann wurde ich vorlaeufig freigestellt – in meinem Heimatort stellten wir Flaschen mit einer Zuendmischung her. Bald verschlug es mich an die Nordwestfront und im Juli 1943 war ich bereits im Gebiet von Belgorod, unweit von Prochorowka.

Das Sanitaetsbataillon hatte sich in Marschzelten in einem kleinen Wald niedergelassen, an dem Bahngleise vorbeiliefen. Rechts von ihm schlaengelte sich eine unbefestigte Landstrasse, die zum Dorf fuehrte, wo man ein Gebaeude aus rotem Backstein sehen konnte. Wahrscheinlich wurden in diesem Gebaeude frueher Kuehe gehalten.

In meine Kompetenz fielen die schwierigsten Verletzungen: Schaedel-Hirn-Traumata, Bauchhoehle- und Beinverletzungen. Man konnte die Verwundeten nicht eine Minute verlassen, nicht einen einzigen Moment Erholung finden. Rund um die Uhr befand ich mich in grosser Anstrengung. Die Nerven waren bis an die Grenze der Belastbarkeit angespannt. Die Stimmung war furchtbar: Vor deinen Augen starben junge, attraktive Jungen in Uniform. „Auf Wiedersehen, Schwester!“, fluesterten sie. Dieses Bild kann man einfach nicht beschreiben, man muss das selbst gesehen haben, durchs Herz gehen lassen…

Die Sorgen nahmen noch zu, als ein vierjaehriges Maedchen zusammen mit einem beinlosen Soldaten gebracht wurde. Man hat das Maedchen bei mir gelassen.

Ich sah die magere schmutzige Kleine, blickte ihr in die erschrockenen zutraulichen Augen, auf ihre zarten mageren Arme und mir wurde ganz schlecht. Mein Gott, woran ist sie denn schuld? Ach, dieser schreckliche Krieg!

Ich erfuhr, dass ihre Mutter bei der Bombardierung gestorben war und dass das Maedchen den ganzen Tag neben der Leiche zugebracht hat. Man sagte, sie habe sich heiser geschrieen: „Mutti! Mutti!“

Sanitaeter waren auf sie gestossen. Sie konnten das Maedchen, das sich Ljuda nannte, kaum von der Leiche trennen. Die ganze Zeit schwieg sie. Nur ihre Schultern zuckten manchmal krampfhaft. In der ersten Zeit hat Ljuda auf keine Fragen geantwortet, erkundigte sich nur, wer sie umgab, und wo ihre Mutti war. Wir haben mit ihr mitgefuehlt, haben sie beruhigt und mitleidig geschluchzt.

Wir wuschen Ljuda (vorher siedeten wir zwei Kessel Wasser), gaben ihr Weizenbrei zu essen und brachten sie zu Bett. Muede, ueberreizt und erschrocken ist sie bis zum naechsten Morgen nicht mehr aufgewacht. Und als sie am naechsten Tag die Augen aufmachte, rief sie nach… ihrer Mutter. Statt ihrer Mutter beugte ich mich ueber sie und streichelte ihr den Kopf mit den goldenen flaumigen Locken. Dann zog ich ihr meine Feldbluse an, kraempelte die Aermel hoch und guertete sie mit Binden. Ich wusch ihr altes Kinderkleidchen und haengte es auf Baumzweigen zum Trocknen auf.

Allmaehlich fasste das Maedchen Zuneigung zu mir, sie liess sich nicht ablenken und wiederholte, meinen Rock fassend, immer wieder dasselbe: „Tante, verlassen Sie mich ja nicht? Ich habe Angst!“ Sie tat mir leid und ich drueckte sie fest an meine Brust. Unwillkuerlich stieg in mir der Gedanke auf: „Was soll ich bloss mit ihr tun? Ich kann sie doch nicht zur vordersten Linie mitnehmen!“

Meine Freunde empfahlen mir, sie in ein Krankenhaus zu schicken, das im Hinterland lag, dort wuerden die Aerzte selbst entscheiden, was sie mit ihr tun sollten.

Ringsherum stand alles in Flammen. Die Erde bebte unter den schweren Bomben und Granaten. Die Luftwaffe verliess den Himmel nicht. Der Tod schwebte foermlich ueber uns. Staendig wurden neue Verwundete gebracht…

Ljuda begann sich an alle, die die ganze Zeit um sie herum waren, zu gewoehnen. Nach jeder Explosion rannte sie zu mir und packte meinen Rock: „Tante, Tante, mir ist Angst und bange!“

Die Aerzte und Krankenschwestern gewannen sie lieb. Auch die Verwundeten liebten sie ueber alles; nachdem Ljuda Mut gefasst hatte, brachte sie ihnen staendig Wasser. Sie kam zu einem jeden und fragte leise:

– Onkel, soll ich Wasser bringen?

Einem der Verwundeten stiegen Traenen in die Augen und sie, die Kleine, fragte ihn, warum er weine. Ein Soldat, der spuerte, dass er dem Tod nahe war, sagte zu ihr: „Komm her!“ Als sie sich ihm naeherte, hoerte sie ihn sagen:

– Auf Wiedersehen, Ljudotschka, ich sterbe…

Sie kam sofort zu mir gelaufen.

– Er stirbt, der Onkel!

Gott lass uns das nie wieder sehen und hoeren! Unsere Truppen vertrieben die Faschisten aus dem Belgorodsker Gebiet, und im Anschluss an die Luftlandeeinheit machten sich die Sanitaetsbataillone, Feldlazarette und Militaerkrankenhaeuser auf den Weg. Es erging Befehl, sich auf die Abfahrt vorzubereiten. Alles fing an zu laufen. Zwei Autos, Lastkraftwagen und Krankenwagen fuhren los. In den einen wurde die ganze Ausruestung der Sanitaetsbataillone verladen und in den anderen vier von dreissig am Leben gebliebenen Soldaten.

So fuhren wir ab. Nach einiger Zeit hielten wir auf der Anhoehe mit dem Backsteinhaus an. Hier gab es ein Spital – ich weiss nicht, zu welcher Armee es gehoerte. Ich uebergab dem Spital alle „meine“ Verwundeten samt Ljudotschka. „Was sollen wir denn mit ihr tun? – jammerten meine Kollegen laut. – Wir haben so viele Probleme mit den Verwundeten!“

Das Waisenkind blickte flehend auf mich und fluesterte: „Tante, verlass mich nicht, verlass mich nicht…Ich habe Angst!“ Ich konnte die Traenen nicht zurueckhalten, ich hatte selbst zu der Kleinen Zuneigung gefasst und wollte mich nicht von ihr verabschieden…Ich versuchte sie zu ueberreden und zu beruhigen, aber sie fuhr fort zu weinen. Ich konnte nichts dagegen tun. Mit ihren kleinen Faeustchen verstrich sie die Feuchtigkeit der Traenen auf ihren Wangen, schmiegte sich mit ihrem ganzen Koerper an mich. Dieser Abschied brach mir das Herz. „Auf Wiedersehen…verzeih’ mir – sprach ich vertraulich mit der Kleinen, – Du darfst nicht mit mir gehen, Du sollst hier bleiben, verstehst Du.“ Zum letzten Mal streichelte ich ihr ueber den Kopf, drueckte sie fest an meine Brust und kuesste sie…

Wir waren dreissig Meter weit gefahren. „Es ist besser, nicht zurueckzuschauen, — empfahl mir der Fahrer, – gleich biegt die Strasse ab…“ So sehr ich es wollte, ich war dazu nicht faehig. Ich sah, wie mein „Patenkind“ uns nachlief, dahinstolpernd und mit den Haenden winkend. Ihr Weinen, ja ihr Geheul gellte mir in den Ohren. „Tante, fahr nicht fort, Tante!“

Was ich in jenem Moment empfunden habe, weiss nur das Herz. Gott, lass mich nie mehr so etwas erleben. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir den Weg mit all den Schlagloechern ueberwunden haben, wie ich mich entspannte und bis zum Abend weinte…

Ljudotschka, bist du noch am Leben? Wenn du diese boese Zeit ueberlebt hast, melde dich! Es ist fuenfzig Jahre her, seitdem wir uns mit Traenen in den Augen verabschiedet haben. Und ich denke noch an dich und bete zu Gott, dass er uns hilft, uns wieder zu treffen.

 

Uebersetzt von Valeria Kisseljowa,
Lektor priester Thomas Diez

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