24 Dezember 2015| Maximowa T.

Ein Tannenbaum zu Weihnachten – ein Zeichen von Hoffnung

Heiligabend, der Tag vor Weihnachten war in unserer Familie immer ein zweifaches Fest. An diesem Tag stellte unsere Mutter für uns Kinder immer einen Tannenbaum auf und das sogar auch im Jahr 1937, als es verboten war, einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Um eine Tanne zu erwerben, hatte sich meine Mutter damals bei völliger Dunkelheit zum Heumarkt aufgemacht. Dort wurden die Bäume zerschnitten und in Säcken verpackt verkauft. Zu Hause hat man sie dann wieder zusammengeflickt. Zum Glück rief unser Weihnachtsbaum bei unseren Nachbaren keinen Verdacht auf feindliche Gesinnung hervor. An diesem Tag feierten wir nämlich auch meinen Geburtstag. Das Fest mit dem Tannenbaum war und blieb für mich das schönste von allen.

An eben diesem Tag machten wir uns auch im Jahr 1941 auf den Weg zum Heumarkt. Dort versammelten sich die Leute, wie es sich überall herumgesprochen hatte, um Dinge miteinander zu tauschen. Der Tag war nicht sehr frostig. Es waren nur 15° unter Null, wie immer trübe, aber windstill. Der erste Teil des Weges, vom Repin-Platz bis zur Alartschin-Brücke — dort legte wir eine kurze Pause ein – führte auch zum Leichenschauhaus. Wir begegneten einer Unzahl von Schlitten oder Sperrholzplatten, auf denen in Decken oder Laken eingewickelt die Toten durch den Schnee gezogen wurden. Gezogen wurden sie von Frauen. Ich sah, wie eine ganz dick eingemummelte Frau und ein Mädchen eine Sperrholzplatte mit drei Leichen hinter sich hergezogen. Für die Köpfe der Toten war die Platte zu klein und so schlugen diese immer wieder auf das schneebedeckte Straßenpflaster und das — man könnte sagen – fast gleichmäßig im Takt, als ob sie sich selbst einen Trauermarsch spielten. Auf dieser kurzen Wegstrecke zählte ich ganze 44 Leichenzüge. Opfer der Blockade!

Vom Heumarkt wurden wir nicht enttäuscht. Mitten auf dem Platz waren irgendwelche Lappen und Tücher ausgelegt, auf denen man Antiquitäten ausgebreitet hatte: Bilder, Schmuck, Vasen und ähnliches. Die Eigentümer dieser ganzen Schmuckstücke boten diese für ein paar Stücken Brot an. Für eine ganz aus Gold gegossene Uhr mit Deckel und mit Diamanten besetzt, ein Meisterwerk aus der Zarenzeit, wollte deren Eigentümerin, eine ältere Dame, nur ganze 200 Gramm Brot – Brot der Blockade! Meine Mutter hatte eine sehr wertvolle Flüssigkeit – 50 Gramm Brennspiritus, mit dem man Öllampen zum Leuchten bringen konnte, den man aber auch trinken konnte – mitgebracht, um diese für ein Stück Zucker einzutauschen. Bereits nach einigen Minuten hatten sich einige Männer gefunden, die zu diesem Tauschgeschäft bereit waren. Es waren zwei Alkoholiker, die ganz gebückt gingen und an allen Gliedern zitterten. Beide hatten eine sehr ungewöhnliche blau-gelbe Gesichtsfarbe. Für die kleine Flasche mit der von ihnen so heiß begehrten Flüssigkeit schob uns der eine von ihnen drei Stück Zucker entgegen. Meine Mutter hatte sich mit dem Tauschgeschäft schon einverstanden erklärt, als plötzlich ein jugendlich aussehender, wackerer und sehr gut gekleideter Mann auftauchte und uns als Tauschware ein Stück Fleisch anbot, das in Zeitungspapier eingewickelt war. Er versprach uns, das Stück Fleisch in einer Ecke, fern von den geizig auf der Lauer liegenden Blicken der Antiquitätenhändler, vor uns auszupacken. Wir verließen daraufhin den mit den Waren übersäten Platz, und hinter einer Hausecke zeigte uns der Mann das Stück Fleisch. Es hatte eine leicht orangene Färbung. So etwas hatten wir in den Geschäften vor dem Krieg noch nicht zu sehen bekommen. Meine Mutter fuhr plötzlich zusammen, ergriff mich schnell bei der Hand, murmelte etwas, dass sie doch lieber den Zucker nehmen würde und lief mit mir davon. So standen wir dann bald wieder vor den Alkoholikern, von denen wir die drei gewünschten Stück Zucker erhielten. Auf dem Weg nach Hause sagte meine Mutter still: „Das war Menschenfleisch …“.

Auf dem Heimweg kauften wir dann noch die gesamte Ration Brot, die unserer Familie zustand. Es war inklusive einer kleinen Beigabe, etwa 30 Gramm. Ich durfte es tragen und drückte es fest an meine Brust. Plötzlich kam ein hoch gewachsener, aber vor Schwäche taumelnder Mann mit einem ganz schwarz gewordenen Gesicht, das voller Falten war und aus dem zwei vom Wahnsinn erfasste Augen hitzig flackerten, direkt auf mich zu. Als er mir so nahe gekommen war, dass er mit seinem langen Arm nach mir fassen konnte, streckte er diesen plötzlich aus und griff mit seinen gekrümmten, knöchernen Fingern blitzschnell nach der kleinen Brotzugabe und ließ diese schnurstracks in seinem Mund verschwinden. Das war noch so ein erschütterndes Erlebnis an diesem Tage.

Danach jedoch folgen nur freudige und wahrhaft weihnachtliche Überraschungen. Ebenso unerwartet wie der kurz vor seinem Tode stehende „Brotdieb“, trat eine junge Frau an uns heran, an deren Hand ein fest zusammengezurrter Tannenbaum baumelte. Sie meinte zu uns, dass sie auf dem Weg nach Melnitshnye Rutshi zu ihren Kindern sei, leider aber ausgerutscht sei und sich die Hand verletzt habe und daher den Tannenbaum nicht länger tragen könne. Sie würde ihn uns deshalb für 15 Rubel zum Kauf anbieten. Das Glücksgefühl, welches mich in diesem Augenblick ergriff, kann wohl niemand beschreiben!

Nachdem wir die Weihnachtstanne zu Hause ausgewickelt hatten, stellte sich heraus, dass sie ungewöhnlich viele Äste hatte, ganz flauschig war und wunderbar nach Harz duftete. Wir schmückten sie. Am Abend klopfte ein Nachbar bei uns an. Der arbeitete im Hafen und bot uns eine Schachtel mit märchenhaftem Trockenobst aus Amerika an. Nicht umsonst, versteht sich. Wir machten aus, dass wir seiner kleinen Tochter den Tannenbaum für Neujahr 1942 vermachen werden. Dafür bekamen wir das Trockenobst, welches uns das Leben rettete.  Vieles mussten wir im Leben noch durchmachen und vieles entbehren. Doch auf einen Tannenbaum zu Weihnachten konnte ich nie mehr verzichten, obwohl es in diesen Jahren ein so schweres Unterfangen war, einen aufzutreiben. Denn war nicht der Tannenbaum, der uns in diesen Tagen des Hungertodes, der Eiseskälte und der völligen Finsternis so völlig unerwartet in die Hände gefallen war und sich vor mir in all seiner duftenden uns ewiggrünen Schönheit aufgetan hatte, der in mir wieder neue Hoffnung hat aufkeimen lassen und ebenso die Überzeugung, dass die Lebenskraft der Natur und des Menschen stärker ist als alles andere, zum Zeichen geworden einer allgemeinen Neugeburt für unsere gesamte Familie? Der Tannenbaum blieb für uns immer ein Symbol für ein hoffnungsvolles Voranschreiten unseres Weges in die Zukunft. Und das war so, in all den darauf folgenden Jahren.

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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