13 Oktober 2014| Korotkewitsch Lina Iwanowna

Ein Kilo Brot

Лина Ивановна Короткевич (1932-2010 гг.)

Lina Iwanowna Korotkewitsch (1932-2010)

Lina Iwanowna Korotkewitsch hat am Repin-Institut Architektur studiert und nach dem Abschluss ihres Studiums als Architektin an verschiedenen Bauprojekten in Leningrad gearbeitet. 1976 hat sie an der „Muchina-Fachschule“ eine Lehrtätigkeit aufgenommen, wo sie Architekturzeichnen unterrichtet hat. Lina Iwanowna war stets darum bemüht, auf den Seiten ihrer Tagebücher all das festzuhalten, was sie gesehen und erlebt hat. Die Jahre des Krieges hat sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester, die im November 1941 geboren wurde, im belagerten Leningrad verbracht und so all die Schwierigkeiten, mit denen die Leningrader zurecht kommen mussten, selbst durchlebt. Die Erinnerungen von Lina Ivanowna an die Tage der Blockade wurden 1985 in der Zeitschrift „Newa“ veröffentlicht. 

Im ersten Winter während der Blockade hat meine Mutter mich nicht aus dem Haus gehen lassen. Fast die gesamte Zeit war ich mit meinem kleinen Schwesterchen allein. Meine Mutter hat alle notwendigen Gänge selbst erledigt. Nachdem sie sich ihre Füße warm eingepackt, die hohen Filzstiefel, die vor dem Krieg modern waren, angezogen und über den Mantel noch ein Wolltuch gebunden hatte, verließ meine Mutter unsere Wohnung. Sie war immer sehr lange weg, oft für den ganzen Tag. Entweder zum Dienst oder um sich in die Schlange nach Brot anzustellen, um Wasser zu holen oder irgendwo Holz und etwas zu Essen aufzutreiben. Damals ging alles nur sehr langsam vonstatten. Alle waren entkräftet. Hier eine Notiz meiner Mutter: „Man geht die Straße entlang und sieht Leichen liegen, manchmal sind sie schon halb vom Schnee zugeweht. Es ist das reinste Grauen. Auf dem Rückweg habe ich deshalb versucht, andere Straßen zu benutzen, doch auch dort war es nicht besser“. Es scheint nur so, dass die Blockade einfach nur bedeutete, ewig herumzusitzen, die ganze Zeit ohne Wasser, Brot und Strom zu warten und bei Kälte und Hunger den Beschuss durch Granaten und Bombardierungen zu ertragen.

Ja, die Blockade ist einem im Gedächtnis geblieben als eine Zeit der Finsternis, als ob es kein Tageslicht gegeben hätte, sondern nur eine einzige, sehr lange, dunkle und eisige Nacht. Doch auch in dieser Nacht gab es Leben, und es wurde um Leben gekämpft, durch hartnäckiges, stündliches Sich Mühen und tagtägliches Sich selbst Überwinden. Jeden Tag musste Wasser geholt werden, und zwar so viel, dass die Windeln gewaschen werden konnten (das was man heute Pampers nennt). Diese Arbeit konnte nie auf später verschoben werden. Die Wäsche war eine tagtägliche Angelegenheit. Um Wasser zu holen, gingen wir zunächst zur Fontanka. Das war nicht gerade ein Katzensprung. Links von der Belinskij-Brücke,  gegenüber dem Scheremetjew-Palast, konnte man auf das Eis gelangen. Bevor meine kleine Schwester geboren worden war, sind meine Mutter und ich zusammen dorthin gegangen. Dann ist meine Mutter später allein mehrere Male gegangen, um das nötige Wasser heranzuschleppen. Zum Trinken war das Wasser der Fontanka nicht geeignet. Dorthinein wurden damals noch einige Abwasser eingeleitet. Die Leute erzählten, dass sie in den Eislöchern auch Leichen gesehen haben. Das Wasser musste abgekocht werden. Dann hat man später in der Nekrassow-Strasse vor dem Haus Nummer Eins durch ein Rohr, welches aus der Luke zur Wasserleitung herausragte, eine provisorische Wasserpumpe geschaffen, die aber Tag und Nacht am Laufen war, damit das Wasser in ihr nicht einfriert. So hatte sich bald ein gewaltiger Eisberg gebildet, doch die Wasserstelle war nun dafür dicht bei. Wir konnten sie von unserem Fenster aus sehen. Auf dem von Eisblumen ganz bedeckten Fenster konnte man sich durch die warme Atemluft ein kleines rundes Loch kratzen und so auf die Straße sehen. Die Leute holten sich Wasser und trugen es langsam davon. Die einen in einem Kessel, andere in einem Kübel. Wenn in einem Eimer, dann war der nie ganz voll, denn ein voller Wassereimer war einfach zu schwer.

Auf dem „Prospekt der Unbesiegten“ hat man an der Wand eines der neuen Häuser eine Gedenktafel angebracht, auf dem eine Frau mit einem Kind auf dem Arm und einem Eimer Wasser in der anderen Hand dargestellt ist. Weiter unterhalb ist an die Hauswand eine Halbschale aus Beton angebracht und aus der Wand ragt ein Stück Wasserleitung hervor. Scheinbar soll dies eine Pumpe symbolisieren, die es hier während der Blockade einmal gegeben hat. Als der neue Prospekt angelegt wurde, hat man diese Pumpe weggenommen. Die Menschen, die diese Gedenktafel entworfen haben, haben die Blockade natürlich nicht selbst erlebt. Die Gedenktafel ist nur ein Symbol, welches in sich all das Charakteristische aufnehmen und die wichtigste Empfindung hinüberbringen soll, damit die Menschen so zum Nachdenken angeregt werden. Die Darstellung auf dem Relief ist aber überhaupt nicht interessant und auch gar nicht typisch. Während der Blockade wäre eine solche Szene einfach nicht möglich gewesen: in einen Mantel und in Filzstiefel gekleidet, auf einem Arm ein Kind und dann noch einen – wenn auch nicht vollen – Eimer Wasser zu tragen. … Man konnte ihn damals nämlich nicht über einen sauber gefegten Asphalt tragen, sondern musste ihn über einen unebenen Trampelpfad durch riesige Schneewehen schleppen. Niemand räumte damals den Schnee weg. Es ist traurig, dass unsere Kinder und Enkel, wenn sie auf dieses ausdruckslose Relief schauen, nicht das erblicken können, was es eigentlich hätte ausdrücken sollen. Sie sehen nichts, sie fühlen nichts und können deshalb auch nichts begreifen. Man muss sich mal vorstellen, wie es ist, wenn man nicht einfach den Wasserhahn in der Wohnung aufdrehen kann, sondern auf die Straße muss, um es von dort zu holen. Es war wie auf dem Dorf! Diese Gedenktafel berührt niemanden, obwohl noch viele von denen, die die Blockade erlebt haben, immer noch am Leben sind.

Um Brot zu holen, musste man an die Ecke Ryleew-Straße — Majakowskij-Straße gehen und sich dort in eine lange Schlange einreihen. Daran kann ich mich noch erinnern, bevor mein Schwesterchen geboren wurde. Auf Lebensmittelkarten konnte man Brot nur in diesem einen Geschäft bekommen, denn es war für uns „zuständig“. Im Inneren des Ladens war es dunkel. Es brannte nur eine provisorische Öllampe, eine Kerze oder eine Kerosinlampe. Auf einer Waage mit Gewichten, die man heute nur im Museum zu sehen bekommt, wog eine Verkäuferin mit äußerster Sorgfalt und sehr langsam jedes Stück Brot ab und wartete immer, bis sich die Waagschalen auf einer Ebene einpendelten. 125 Gramm mussten genau abgewogen werden. Die Menschen standen und warteten geduldig. Jedes Gramm war wertvoll, niemand wollte auch nur ein Zehntelgramm verlieren. Was ist das schon ein Gramm Brot? Das wissen nur jene, die nach diesen Gramm Brot während der Blockade angestanden haben. Was für eine Kleinigkeit – ein Gramm, so denken viele von denen, die heute leben. Heute kann man so ein Stück, wie das, was einem damals einmal am Tag ausgegeben wurde, mit zwei-drei Bissen und ein wenig Suppe dazu aufessen oder es mit Butter bestreichen. Damals musste so ein Stück Brot für einen ganzen Tag reichen. Heute bekommt man so ein Stück in einer Kantine für eine Kopeke und wirft es leider so oft einfach weg. Ich erinnere mich noch, wie einmal eine Frau in unseren Tagen in einem Bäckerladen mit einer Gabel das Brot getestet hatte und sich daraufhin mit lauter Stimme beschwert hat: „Das Brot ist hart!“ Ich war damals ganz geschockt. Es war klar, dass sie nicht wusste, was es bedeutet, nur 125 oder 150 Gramm Brot für einen ganzen Tag zu haben. Ich hätte am liebsten zurückgeschrien: „Aber es gibt Brot in Hülle und Fülle! So viel, wie man will!“ Ich weiß nicht mehr genau wann, aber ich erinnere mich noch, dass in Leningrad in den Kantinen eine Zeit lang aufgeschnittenes Brot auf den Tischen kostenlos auslag. Beim Bäcker konnte man sich selbständig ein Brot aus dem Regal nehmen, um es dann an der Kasse zu bezahlen. Es gibt wohl kaum jemanden, der sich an solch paradiesischen Zustände und dieses Vertrauen, was man den Leuten gegenüber hat, noch erinnern kann.

Es war enttäuschend, wenn einem in den 125 Gramm ein Stück Schnur hineingeraten war. Einmal hat sich so etwas sehr merkwürdiges in unserer Brotration befunden – es schien mir, der Schwanz einer Maus zu sein. Damals versuchten wir unser Stück Brot in Firnis zu braten und stellten deshalb eine winzig kleine Pfanne auf die Kohlen in unserem kleinen Ofen. Völlig unerwartet fing der Firnis Feuer, doch, obwohl wir die Flammen mit einem Lappen sofort löschen konnten, war unser Brot fast zu einem Stück Kohle zusammengeschrumpft. Über die Rezeptur des Brotes der Blockade wurde viel geschrieben. Die interessanteste Zutat in einem Rezept scheint mir „Tapetenstaub“ zu sein. Es ist schwer vorstellbar, was damit gemeint sein soll.

Solange Mama unterwegs war und mein Schwesterchen Swjeta schlief, habe ich gelesen. Zusätzlich zu dem Mantel, den ich trug, wickelte ich mich noch in eine Decke ein und machte es mir so am Tisch irgendwie gemütlich. Vor einer Öllampe öffnete ich einen riesigen Band von Puschkin. Ich habe alles hintereinander weggelesen. Vieles habe ich nicht verstanden, doch ich habe meine Freude gehabt, am Rhythmus und der Melodie der Verse von Puschkin. Wenn ich beim Lesen war, habe ich den Hunger nicht so verspürt, dann hatte ich auch keine Angst mehr vor dem Alleinsein oder vor Gefahren. Dann schien es mir, dass es diese leere, eiskalte Wohnung nicht mehr gab und dass diese hohen, dunklen Wände des Zimmers nicht mehr da waren, an denen mir mein formloser Schatten, wenn er sich regte, immer wieder einen Schrecken einjagte. Wenn ich allzu sehr fror oder wenn meine Augen müde geworden waren, dann ging ich im Zimmer auf und ab oder wischte Staub, fertigte Kienspanen für den Ofen oder zerrieb in einer kleinen Schüssel das Essen für mein kleines Schwesterchen. Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, plagten mich immer Gedanken, was ich machen soll, wenn sie einmal nicht mehr wiederkehren wird? Und so schaute ich aus dem Fenster in der Hoffnung, meine Mutter irgendwo zu Gesicht zu bekommen. Ich konnte einen Teil der Nekrassow-Straße und der Korolenko-Straße übersehen. Alles war dicht von Schnee verweht und in den Schneewehen waren schmale Pfade getreten. Ich erzählte meiner Mutter nicht, was ich zu sehen bekam, wie auch sie mir nicht berichtete, was sie außerhalb der vier Wände unserer Wohnung mit ansehen musste. Ich muss sagen, dass dieser Teil der Straße auch noch nach dem Krieg für mich immer kalt und abweisend geblieben ist. Irgendwelche tiefen Empfindungen und Eindrücke aus der Vergangenheit veranlassen mich auch heute noch, stets einen großen Bogen um diesen Teil der Straße zu machen.

Man bekam selten einen Fußgänger zu Gesicht. Oft waren die Menschen mit Schlitten unterwegs. Halbtote Wesen zogen auf Kinderschlitten Leichen durch den Schnee. Zuerst war es jedes Mal ein furchterregender Anblick. Dann jedoch wurde er alltäglich und verlor seinen Schrecken. Ich habe mitangesehen, wie jemand eine in ein weißes Laken gewickelte Leiche einfach in den Schnee geworfen hat. Er ist zunächst noch eine Zeit lang stehen geblieben, hat aber dann seinen Schlitten genommen und ist fortgegangen. Der Schnee hat alles unter sich begraben. Ich versuchte mir zu merken, wo der Tote unter dem Schnee lag, um dann, irgendwann einmal später, diese furchtbare Stelle zu meiden. Ich habe von meinem Fenster aus gesehen, wie an der Ecke zur Korolenko-Straße eine Pferd, das irgendwelche Schlitten zog, umgefallen ist (Das muss ungefähr im Dezember einundvierzig gewesen sein). Es konnte sich nicht wieder aufrichten, obwohl zwei Männer versucht haben, ihm dabei zu helfen. Sie haben es sogar vom Schlitten losgespannt, doch das Pferd, wie auch die beiden Männer, war völlig entkräftet. Dann wurde es dunkel. Am Morgen war das Pferd dann nicht mehr da. Der Schnee hatte den dunklen Fleck, wo das Pferd gelegen hatte, bereits zugeweht.

Alles war eigentlich irgendwie aushaltbar, solange das Kindchen schlief. Jedes Mal, wenn draußen irgendwo eine Granate einschlug, schaute ich auf mein kleines Schwesterchen und hoffte, dass sie doch nur weiterschlafen möge. Trotzdem kam dann immer einmal der Moment, an dem sie aufwachte, zu zetern begann und sich in ihrer Decke räkelte. Ich versuchte alles, um sie irgendwie abzulenken. Ich wiegte sie in meinem Arm und dachte mir, wer weiß nicht was, aus, nur damit sie in diesem kalten Zimmer nicht zu weinen anfangen möge. Was mir unter allen Umständen verboten war, war die dicke Decke, in die sie eingepackt worden war, auseinanderzuwickeln. Doch wem gefällt es schon, für Stunden in nassen Windeln zu liegen? Ich sollte darauf achten, das Swjetka weder ein Ärmchen noch ein Beinchen aus der Decke steckte. Es war doch so kalt! Doch oft halfen alle meine Bemühungen nichts. Sie begann ihr jammervolles Weinen. Auch wenn sie selbst kaum Kräfte hatte, gelang es ihr doch immer wieder, eines ihrer kleinen Ärmchen aus der Decke zu ziehen. Dann weinten wir beide zusammen und ich versuchte, Swjetka, so gut ich konnte, wieder zuzudecken und einzuwickeln. Außerdem musste ich sie täglich zu festgelegten Zeiten füttern. Wir hatten damals keine Schnuller. Vom ersten Tag an fütterten wir das kleine Mädchen mit einem Löffel. Es war eine wahre Kunst, ihr das Essen tröpfchenweise in den kleinen Mund zu geben — der bisher nur saugen konnte — und dabei nicht einen Tropfen der kostbaren Nahrung vorbeigehen zu lassen. Meine Mutter hat das Essen für mein Schwesterchen immer im Voraus vorbereitet. Deshalb war es stets kalt. Es war mir aber nicht erlaubt, den Ofen in meiner Mutters Abwesenheit anzuzünden. Die Milch, die in einem kleinen Gläschen für sie vorbreitet war, erwärmte ich deshalb, so gut ich konnte, mit meinen Handflächen oder aber  — was mir selbst immer sehr unangenehm war – ich steckte das kalte Gläschen für eine Weile unter meine Sachen, ganz dicht an meinem Körper, damit das Essen so etwas wärmer würde. Dann versuchte ich es warm zu halten, in dem ich das Gläschen fest mit der einen Hand umschloss und in der anderen Hand den Löffel hielt, mit dem ich mein Schwesterchen fütterte. Nachdem ich etwas auf den Löffel gefüllt hatte, pustete ich das Essen an, in der Hoffnung, dass das Essen dadurch etwas wärmer würde.

Es kam auch vor, dass es mir nicht gelang, Swjeta zu beruhigen. Dann machte ich trotz des Verbots im Ofen ein Feuer, um so das Essen schneller warm zu bekommen. Ich stellte dafür das Glas direkt auf den Ofen. Als Heizmaterial dienten mir meine Zeichnungen aus der Zeit vor dem Krieg. Ich habe von klein auf an gerne gemalt und meine Mutter hat die Zeichnungen immer alle zusammengelegt und aufgehoben. Mit der Zeit war davon eine beträchtliche Anzahl zusammengekommen. Nun jedoch wanderten alle diesen Zeichnungen, eine nach der anderen, in den Ofen. Jedes Mal, wenn ich wieder eine neue Zeichnung den Flammen übergeben musste, gab ich mir das Versprechen, dass ich, wenn der Krieg einmal vorbei sein wird und ich viel Papier haben werde, all das noch einmal malen werde, was ich nun dem Feuer opfern musste. Besonders schade war es um die Bilder, auf denen ich Großmutters weitverzweigte Birke gemalt hatte, das dichte Gras drum herum mit den Blumen darin und den vielen Pilzen und Beeren.

Es ist mit bis heute noch ein Rätsel, wie ich nicht ein einziges Mal das Essen, was meine Mutter für Swjeta zurückgelassen hatte, selbst aufgegessen habe. Ich gebe zu, dass ich zwei-drei Mal, während ich sie gefüttert habe, mit der Zunge an dem leckeren Löffel geleckt habe. Ich erinnere mich auch, wie furchtbar peinlich es mir dann war, als ob alle gesehen hätten, wie schlecht ich mich benommen hatte. Übrigens habe ich mein gesamtes Leben lang, wo immer ich auch gewesen bin, das Gefühl gehabt, dass meine Mutter alles sieht und alles weiß und dass ich deshalb immer so handeln sollte, wie mein Gewissen es mir vorsagt.

Wenn unsere Mutter nach Hause zurückkehrte, trieb sie mich immer — wie erschöpft sie auch gewesen sein mag – dazu an, den Ofen anzuzünden, um so schnell wie möglich das Baby fertigzumachen. Das ging meiner Mutter sehr schnell von der Hand, man kann sagen, auf wahrlich virtuose Weise. Bei meiner Mutter saß jeder Handgriff, alles war vorher genau durchdacht. Sie legt sich alles, was sie brauchte, in der nötigen Reihenfolge zurecht. Wenn wir die Decke und das Wachstuch, in die das Kind vollständig umhüllt worden war, auswickelten,  stieg immer erst einmal einer Säule gleich dichter Dampf empor. Das Mädchen war völlig nass —  bis unter beide Ohren. Nicht ein einziger Faden an ihr war trocken geblieben. Wir nahmen sie wie aus einer riesigen nassen Kompresse heraus. Nachdem wir alle nassen Sachen in eine Schüssel geworfen hatten, bedeckten wir Swjetik mit einer trockenen, vorher auf dem Ofen vorgewärmten Windel. Meine Mutter rieb während dessen ihren gesamten Körper auf unwahrscheinlich schnelle Weise mit Sonnenblumenöl ein, damit sich wegen der ständigen Feuchtigkeit keine offenen Wunden bildeten, da ja keine Luft an ihre Haut kam.

Swjeta hatte keine besonderen Möglichkeiten, sich zu bewegen. Frei umherstrampeln konnte sie nur, wenn wir sie badeten. Wir wuschen sie sorgfältig, einmal in der Woche. In der damaligen Zeit war das ein kompliziertes und schwieriges Unterfangen, das meiner Mutter die letzten Kräfte raubte. Man brauchte sehr viel Wasser, was man nicht nur heranschleppen, sondern dann später auch wieder im Hof weggießen musste. Wenn es meiner Mutter gelang, irgendwo Holz aufzutreiben, dann heizten wir den eisernen Kanonenofen für länger und machten mehrere Töpfe mit Wasser auf ihm heiß. Wir bauten dann aus einer Decke eine Art Zelt, damit die Wärme nicht nach oben entweichen konnte, stellten eine große Schüssel auf einen Hocker und badeten Swjetka darin. Unter der Zeltdecke trockneten wir sie dann auch gründlich wieder ab. Wenn die Stadt gerade nicht beschossen wurde und kein Bombenalarm ausgelöst worden war, ließen wir die Kleine etwas länger in Freiheit strampeln. Meine Mutter massierte sie dann stets oder machte mit ihr gymnastische Übungen. Bevor das Mädchen dann wieder in die Windeln, das Wachstuch und in die Decke eingewickelt wurde, schmierte es meine Mutter wieder voller Sorgfalt mit dem gelobten Sonnenblumenöl ein. Auch wenn wir etwas in Firnis braten, Tischlerleim zerlassen oder ein Stück Leder auskochten mussten, das Sonnenblumenöl blieb immer unangetastet und war, was unsere Ernährung betraf, tabu.

Nach dem Baden machte ich mich daran, mein Schwesterchen zu füttern und meine Mutter kümmerte sich um die schweren Arbeiten zu Hause. Alles musste aufgeräumt und gewaschen werden. Das Schmutzwasser sollte auf dem Hof ausgegossen werden. Wie meine Mutter die Windeln gewaschen hat, davon können ihre Hände besser erzählen als alle Worte. Ich weiß, dass sie sie öfter im kalten Wasser gewaschen hat als im warmen. Dem Wasser hat sie immer etwas Permanganat beigegeben. Nachdem sie dann alle Windeln zum ausfrieren in der eiskalten Küche aufgehängt hatte, hat meine Mutter ihre abgestorbenen und roten Hände lange aufgewärmt und dabei erzählt, dass man auf dem Dorf die Wäsche im Winter in Eislöchern spült, als ob sie sich selbst trösten wollte. Nachdem der größte Teil des Wassers bereits herausgefroren war, trockneten die Windeln dann im Zimmer weiter. Wir selbst wuschen uns selten und wenn dann nur teilweise. Meine Mutter wollte mir nicht meine dicken Zöpfe abschneiden und spülte sie deshalb immer nach dem Haare Waschen mit Wasser aus, dem sie einige Tropfen Kerosin beigemengt hatte. Sie befürchtete Läuse und machte deshalb bei jeder Gelegenheit unser Bügeleisen heiß und bügelte unsere Wäsche. Wie einfach das heute alles erscheint. Damals musste man für jeden kleinen Handgriff alle seine Kräfte und seinen Willen zusammennehmen. Man musste sich zwingen, sich nicht aufzugeben und jeden Tag all das zu machen, was man noch tun konnte, um so zu überleben und dabei ein Mensch zu bleiben.

Bei meiner Mutter herrschte in allem strenge Ordnung. Morgens und abends brachte sie den Mülleimer hinaus. Als dann später die Kanalisation nicht mehr funktionierte, brachten die Leute alles in Eimern aus ihren Wohnungen und warfen es auf den Deckel der Luke zur Kanalisation. Dort bildete sich mit der Zeit ein riesiger Kothaufen. Die Stufen des Treppenaufganges der Dienstbotentreppe waren teilweise so voller Eis, dass es schwer war, dort zu gehen. Meine Mutter zwang mich jeden Morgen aufzustehen. Sie drängte mich dazu quasi durch ihr eigenes Beispiel. Man musste sich schnell anziehen. Meine Mutter verlangte, dass ich mir, wenn ich mich schon nicht wasche, so doch wenigstens mit nassen Händen durchs Gesicht fahre. Ich musste mir die Zähne putzen, wenn dafür auf dem Ofen Wasser aufgewärmt wurde. Wir schliefen in Kleidung,  nur die Mäntel zogen wir zum Schlafen aus. Wenn es am Abend die Möglichkeit gab, auf dem Ofen das Bügeleisen anzuheizen, dann legten wir es für die Nacht in unser Bett. Morgens dann jedoch aus dem Bett aufzustehen und unter all den Decken in die Kälte des Zimmers, in dem in der Nacht das Wasser im Eimer gefroren war, hervorzukriechen, war die reinste Tortur. Meine Mutter verlangte, dass ich immer bereits am Abend vorher alle Dinge der Reihe nach so hinlegte, dass diese Ordnung mir half, mich so schnell wie möglich anzuziehen, um so die Wärme der Nacht nicht zu verlieren. Nicht ein einziges Mal, die ganze Zeit des Krieges hindurch, hat es meine Mutter mir erlaubt, länger im Bett liegen zu bleiben. Wahrscheinlich war das sehr wichtig. Es war für uns alle sehr schwer. Alle froren wir auf die gleiche Weise, alle hatten wir auf die gleiche Weise Hunger. Meine Mutter behandelte mich wie jemanden, der ihr ebenbürtig war, also wie einen Freund, auf den man sich verlassen kann. Und so ist es auch immer geblieben.

Ungeachtet der Erschöpfung und der ständigen Gefahr, habe ich nicht ein einziges Mal gesehen, dass meine Mutter Angst hatte oder geweint hat, dass sie die Hände hat sinken lassen oder gesagt hat: „Ich kann nicht mehr!“ Sie hat jeden Tag hartnäckig all das gemacht, was sie konnte und was notwendig war, um diesen Tag zu überleben. Jeden Tag voller Hoffnung, dass es morgen leichter werden wird. Meine Mutter hat immer wieder wiederholt: „Man muss sich bewegen. Wer sich ins Bett legt und nichts zu tun hat, der ist bereits gestorben. Man kann immer etwas finden, was man tun kann, wie sich auch immer ein Grund finden lässt, etwas nicht zu machen. Um zu leben, muss man arbeiten“. Was ich allerdings nicht mehr weiß, ist, was wir in diesem ersten Winter während der Blockade gegessen haben. Manchmal scheint es mir, dass wir gar nichts gegessen haben. Ich habe den Eindruck, dass meine weise Mutter sehr bewusst die Aufmerksamkeit stets vom Essen abgelenkt hat. Dabei war das Essen für mein Schwesterchen jedoch immer streng getrennt von dem, was wir selbst gegessen haben.

Meine Mutter hat in ihrem grünen Heftchen notiert, dass all die getrockneten Obst- und Kartoffelschalen schon im Dezember aufgebraucht waren. Vom Essen wurde bei uns nie gesprochen. Es gab einfach nichts zu Essen. Niemand, der in Leningrad geblieben war, hatte etwas. Warum sollte man um etwas bitten, was es nicht gab. Viel sinnvoller war es, etwas zu lesen, etwas zu tun und der Mutter zu helfen. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter nach dem Krieg einmal in einem Gespräch zu jemandem gesagt hat: „Ein großes Dankeschön an Lisotschka, denn sie hat mich nie nach etwas zu Essen gefragt!“ Nein. So war es nicht. Einmal habe ich sie sogar sehr eindringlich darum gebeten, die chromledernen Stiefel des Vaters gegen ein Glas Wallnüsse einzutauschen, die irgendein Mensch auf der Straße laut in den höchsten Tönen anpries. Wie viele waren dort in diesem geschliffenen Glas? Fünf oder sechs Stück? Doch meine Mutter hat gesagt: „Komm, das ist einfach nur widerlich“. Sie hasste diese Orte, wo das Volk spontan zusammenkam und irgendwelche Waren anbot. Sie konnte dort weder etwas verkaufen noch etwas kaufen. Mich hatte sie wohl einmal dorthin mitgenommen, um sich mutiger zu fühlen. Auf diesen Schwarzmärkten konnte man so manches kaufen, sogar gebratene Bouletten. Doch wenn man in den Schneewehen die Leichen liegen sah, dann kam man so auf die verschiedensten Gedanken dabei. Auch Hunde, Katzen und Tauben hatte damals schon lange niemand mehr zu Gesicht bekommen.

Im Dezember 1941 ist einmal jemand zu uns in die Wohnung gekommen und hat meiner Mutter vorgeschlagen, Leningrad zu verlassen. Er meinte, dass ihre Situation, mit zwei Kindern allein zu sein, den sicheren Tod bedeuten würde. Vielleicht hat meine Mutter dann darüber nachgedacht. Sie hat mehr von all dem gesehen und erfahren, was in der Stadt geschah, als ich. An einem der folgenden Abende hat meine Mutter jedenfalls alles, was im Falle einer Evakuierung nötig gewesen wäre, in drei Taschen zusammengepackt. Am nächsten Morgen ist sie dann irgendwohin gegangen. Als sie zurückkam, war sie sehr schweigsam. Dann sagte sie mit fester Stimme: „Wir fahren nirgendwohin. Wir bleiben zu Hause“.

Nach dem Krieg hat meine Mutter ihrem Bruder erzählt, wie man ihr auf der Evakuierungsstelle ausführlich erklärt habe, dass der Weg aus der Stadt heraus über den Ladogasee führt und dass man eventuell in einem offenen Wagen gefahren wird. Der Weg sei gefährlich und es könne passieren, dass man auch zu Fuß gehen müsse. Wie viele Stunden und Kilometer kann vorher niemand sagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie eines der Kinder dabei verlieren (eines wird also umkommen). Meine Mutter wollte niemanden von uns verlieren und konnte sich nicht vorstellen, wie sie danach weiterleben sollte. Und so hat sie es abgelehnt, die Stadt zu verlassen.

Meine Mutter hat dann Blut gespendet. Ich denke, dass eine gehörige Portion Mut dazugehört, sich dazu zu entschließen, in solch einem geschwächten Zustand Blut zu spenden. Nachdem einem Blut abgenommen worden war, wurde man nicht sofort nach Hause entlassen. Man bekam zunächst etwas zu essen. Ungeachtet dessen, dass es streng untersagt war, gelang es meiner Mutter trotzdem, heimlich etwas von dem Essen mit nach Hause zu bringen. Sie ging sehr regelmäßig zur Blutspende. Manchmal sogar öfter, als dies erlaubt war. Sie sagte, dass ihre Blutgruppe die beste sei und deshalb für alle Verwundeten verwendet werden kann. Meine Mutter hat bis zum Ende des Krieges Blut gespendet.

Ich weiß noch, wie einmal während einer der letzten Registrierungen der Überlebenden der Blockade (auf dem Newskij-Prospekt im Haus Nummer 102 oder 104) eine Frau mittleren Alters meine Unterlagen in der Hand hielt. Darunter waren die Urkunde, dass meine Mutter Trägerin der Medaille „Zur Verteidigung Leningrads“ ist und auch ein Dokument, welches sie als Verdienstvollen Blutspender ausweist. Als diese Frau las, dass meine Mutter im Dezember 1941 oder im Januar 1942 begonnen hat, Blut zu spenden, hat sie mich der Lüge bezichtigt: „Was für eine Blutspende! Sie hatte doch ein kleines Kind! Warum lügen Sie?“ Ich nahm alle meine Unterlagen zusammen und verließ das Büro. Wenn wir die Blockade überlebt haben, dann überleben wir auch heute. Nach der Blockade habe ich vor nichts mehr Angst.

Doch wer hat damals schon gefragt? Da ist ein Mensch gekommen, der Blut spenden wollte. Blut wurde gebraucht und etwas zu Essen auch. Alle Blutspender bekamen Lebensmittelmarken wie ein die Arbeiter.

Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, lastete die gesamte Verantwortung auf mir. Ich hatte immer Angst. Viele Ängste waren vielleicht auch nur eingebildet, doch für mich waren sie damals völlig real. Wenn zum Beispiel jemand an der Tür klopfte. Besonders fürchtete ich mich, wenn vom Dienstboteneingang her geklopft wurde. Dort war die Tür durch einen langen, riesigen Haken geschlossen. Um sie dichter zu schließen steckten wir unter den Türgriff einen Holzbalken. Wenn man an der Tür ruckelte, dann konnte es passieren dass der Holzbalken umfiel. Den Haken hätte man dann leicht durch den kleinen Spalt, der nun entstand, weil sich  die Tür so ein wenig öffnen ließ, anheben können. Wenn ich es Klopfen hörte, trat ich nicht sofort aus dem Zimmer hinaus. Ich hörte zunächst einmal genauer hin, denn es kam vor, dass jemand klopfte und dann wieder ging. Wenn jemand nicht aufhörte zu klopfen, dann ging ich voller Angst auf den eiskalten Korridor und schlich mich lautlos vor bis an die Tür. Ich dachte mir aus, wie ich den Eindruck erwecken könnte, dass viele Menschen in der Wohnung seien. Wenn ich nachfragte, wer denn da sei, bemühte ich mich, dies mit einer Bassstimme zu tun. Ich öffnete nicht, wenn dort geschwiegen wurde, ich machte auch dann nicht auf, wenn man mich darum bat, die Tür zu öffnen. So auch nicht den Diensthabenden, die nach besonders schweren Bombardierungen alle Wohnungen, in denen noch Menschen lebten, abliefen. Ich öffnete die Tür nur für Tante Tanja – die jüngere Schwester meiner Mutter. Sie kam selten. Sie war sehr schwach und sah zum Fürchten aus. Noch vor kurzem war sie jung, schön und fröhlich. Nun war sie ein Schatten ihrer selbst, ganz schwarz. Ihre Jochbeine stachen hervor und sie war ganz fahl. Tanja betrat das Zimmer sehr langsam und stand eine Zeit lang nur so da. Sie konnte ihren Blick nicht von einem kleinen Säckchen aus Gazen abwenden, das am Ofen hing und in dem Stücke von Zucker aufbewahrt wurden, die einst für den Großvater gekauft worden waren. „Lisotschka“, gib mir doch ein Stückchen! Nur ein einziges Stückchen! Dann gehe ich auch gleich wieder“.

Tanja war für mich wie eine zweite Mutter. Ich fühlte mich auf der einen Seite wie eine Verräterin, auf der anderen jedoch auch wie jemand, der eine gute Tat vollbringt. Dann aber auch wie eine Betrügerin, denn Tanja erlaubte es mir nicht, meiner Mutter zu sagen, dass ich ihr Zucker gebe. Ich habe es ihr bis heute nicht gesagt. Ich hatte keine Ahnung, ob meine Mutter diese Zuckerstückchen zählte oder nicht. Ich werde immer noch rot bei dem Gedanken, dass meine Mutter denken könnte, dass ich in ihrer Abwesenheit diesen Zucker gegessen habe. Wahrscheinlich aber hätte mich meine Mutter nicht für eine gute Tat bestraft.

Einmal hat der Hausverwalter bei uns in der Wohnung geklopft. Meine Mutter öffnete ihm und ließ einen dunklen Menschen in Mantel und Pelzmütze ein, der sich – wer weiß warum — statt eines Schals ein Handtuch um den Hals gewickelt hatte. Der Hausverwalter fragte, wie viele wir seien und wie viele Zimmer wir hätten. Wir waren drei, hatten aber nur ein Zimmer.

— Aber das ist doch viel zu eng! Kommen Sie, ich gebe ihnen noch ein Zimmer dazu oder zwei. Sie müssen mir nur ein Kilo Brot dafür geben!

— Wie soll das gehen? Die Menschen werden doch zurückkommen!

— Niemand wird zurückkommen. Ich versichere es ihnen, niemand kommt zurück. Ich möchte nur ein Kilo Brot!

— Wir haben kein Brot. Wenn wir sterben werden, was sollen wir dann mit den Zimmern? Wenn wir überleben, dann werden wir den Leuten nicht in die Augen blicken können vor Scham. Gehen Sie lieber!

Als wir dann nach dem Krieg zu sechst in dem Zimmer wohnen und es wirklich eng und unangenehm geworden war, erinnerten wir uns mit einem Lächeln an den Vorschlag des Hausverwalters. Wie einfach hätten wir noch ein Zimmer oder zwei dazubekommen können! Hätten wir nur ein Kilogramm Brot gehabt und hätte uns auch noch das Gewissen in Ruhe gelassen (übrigens sei gesagt, dass nach damaliger Norm jedem Menschen ein Wohnraum von drei Quadratmetern zustand). Als bei uns im Haus eine Zentralheizung eingebaut wurde, haben wir unseren Kachelofen abgerissen. So hatte dann jeder von uns drei Quadratmeter und zwanzig Zentimeter zum Leben. Doch so wurden wir auch aus der Liste derer gestrichen, die ein Anrecht auf mehr Wohnraum hatten.

Von all den Neujahrsfesten während der Blockade kann ich mich nur an eines erinnern —  an das erste. Wahrscheinlich deshalb, weil es das erste war ohne einen schönen Tannenbaum mit Konfekt, Nüssen, Mandarinen und glänzenden kleinen Lichtern. Anstelle des Tannenbaumes musste ich mit einer vertrockneten Chrysantheme vorliebnehmen, die ich mit Papiergirlanden und Wattebauschen schmückte.

Im Radio trat Olga Bergholz auf. Ich wusste damals noch nicht, dass sie unsere Leningrader Dichterin war. Doch ihre Stimme mit ihrem charakteristischen Klang hat mich irgendwie angerührt. So habe ich begonnen, aufmerksam zuzuhören. Langsam und ruhig klangen ihre Worte: „Ich muss euch sagen, was für ein Jahr es ist, diese Jahr …“. Weiter erinnere ich mich noch an andere Verse. Es scheinen diese gewesen zu sein: „Genossen, bittere und schwere Tage sind über uns hereingebrochen. Uns bedrohen Jahre und Nöte. Doch wir sind nicht vergessen, wir sind nicht allein und darin besteht schon ein Sieg!“ Erst nach dem Tod von Olga Fjodorowna hat man ihr zu Ehren am Eingang des Gebäudes der Rundfunkanstalt in der Italienischen Straße auf der rechten Seite eine Stele aufstellen lassen. Es ist schade, dass kaum jemand dieses Denkmal kennt. Heute ist dort ein Gitter und es scheint auch, dass dort bereits ein anderes Denkmal steht.

In den Aufzeichnungen meiner Mutter in ihrem Heft findet sich folgende kleine Notiz: „Ungeachtet der Grausamkeiten der Blockade, der ununterbrochenen Bombardierungen und des Beschusses waren die Theater und Kinosäle doch nie leer“. Es stellte sich heraus, dass es auch meine Mutter unter diesen furchtbaren Umständen des Lebens geschafft hat, in die Philharmonie zu gehen. „Ich weiß es nicht mehr genau, wann es gewesen ist. Eine Violinistin und ein Bariton haben im Großen Saal zusammen ein Konzert gegeben. Ich hatte das Glück dort zu sein. Der Saal wurde nicht beheizt. Alle saßen in ihren Mänteln. Es war dunkel. Nur die Figur der Musikerin in einem schönen Kleid war durch ein ungewöhnliches Licht beleuchtet. Man konnte sehen, wie sie ihrer Finger immer wieder anhauchte, um sie wenigstens so ein wenig aufzuwärmen“.

Von den Bewohnern unseres Hauses sind während der Blockade ganze vier Familien in der Stadt verblieben. In der Wohnung Nummer Eins, in der zweiten Etage, wohnten zwei alte Leute – die Lewkowitschs. In der Wohnung Nummer Zwei eine sehr laute, wohlbeleibte Dame – die Awgustinowitsch. Sie hat in einer der Fabriken gearbeitet und war selten zu Hause. In der dritten Wohnung wohnten meine Mutter, mein Schwesterchen und ich. Oben in der Wohnung Nummer 8 lebte eine Familie, die aus drei Personen bestand – die Priputnewitschs. Sie hatten einen wunderbaren Hund – einen Pinscher. Es gab nichts, womit man den Hund hätte füttern können und wie sollte man mit ansehen, wie ein hungriges Tier elendig zugrunde geht … Deshalb hat sein Herrchen eines Tages sein Jagdgewehr genommen und den armen Hund in unserem Hof erschossen. Voller Tränen habe ihn dann alle aufgegessen, bis zum letzten Knochen. Später dann, wie es scheint, ist die Familie dann doch aus der Stadt gebracht worden.

Die Lewkowitschis aus der Wohnung Nummer Eins schienen mir damals alte Leute zu sein. Ihre Kinder waren wahrscheinlich an der Front. Sie wohnten in dieser Wohnung schon seit einer Ewigkeit und zwei Zimmer hatte man ihnen gelassen. Eines lag auf er Südseite, zur Nekrassow-Strasse hin, die während des Beschusses der Stadt sehr gefährlich war. Das andere Zimmer war dunkel und schaute auf unseren engen Hofschacht, wohin sich, wie alle meinten, eine Bombe nur dann verirren könnte, wenn sie genau senkrecht über dem engen Schacht abgeworfen würde. Die Lewkowitschs besaßen einen Samowar. Womit sie ihn anheizten, weiß ich nicht, doch er war bei ihnen immer warm und hat ihnen ein wenig den Ofen im großen, hellen Zimmer ersetzt, das ganz voller echter, geschnitzter Holzmöbel war. An einer Wand hing in einem dunklen, ovalen Rahmen ein Spiegel und gegenüber, in einem ebensolchen Rahmen, ein großes, altes Foto, auf dem die beiden Leute noch jung und sehr schön waren.

Um den Samowar herum versammelten sich oft die wenigen übrig gebliebenen Bewohner unseres Hauses. Mit ihm verbinden sich für mich Erinnerungen an Wärme, an die beiden angenehmen zwei Alten und daran, dass ihr dunkles Zimmer uns allen oft als Luftschutzkeller gedient hat. Wenn wir bei ihnen zusammenkamen, um ein wenig heißes Wasser zu trinken,  brachte jeder etwas mit, was es bei ihm noch an Essbarem gab.

Bereits nach dem Krieg, als ich schon an der Leningrader Künstlerischen Fachschule studiert habe, sehe ich eines Tages, als ich gerade nach Hause komme, vor dem Haupteingang zu unserem Haus einen LKW stehen. Irgendwelche Leute tragen alte Sachen heraus und werfen sie auf die Ladefläche. Ich gehe die Treppe hinauf und sehe, sie kommen aus der Wohnung Nummer Eins: In meinem Kopf habe ich sofort nur einen Gedanken: „Sind die Lewkowitschs etwa gestorben? Werfen die Leute hier jetzt alles auf den Müll?“ In der Hand eines Möbelträgers sehe ich den mir wohlbekannten Samowar. Ich frage:

— Wohin bringen Sie das alles?

— Auf den Müll!

— Geben Sie mir diesen Samowar!

— Drei Rubel!

— Gleich!

Ich renne nach oben und schreie:

— Ich brauche drei Rubel, schnell!

Dann stürze ich wieder die Treppe hinab und halte so den Samowar in meinen Händen. Und so seht er noch immer bei mir zu Hause als Andenken an die Blockade und an die guten alten Leute.

 

 Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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