22 April 2015| Zarfis Pjotr Grigoewitsch, Doktor der Medizin, Professor

Die Lehrstunden des Chirurgen Judin

Юдин, Сергей Сергеевич (1891—1954) — крупный российский хирург и учёный.

Sergej Sergejewitsch Judin (1891—1954)

Seit Beginn der dreißiger Jahre bis zu seinem Lebensende hat Sergej Sergejewitsch Judin in Moskau gearbeitet, in einem Institut, das nach N. W. Sklifosowskij benannt ist, einem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefeierten russischen Chirurgen. Dieses Institut ist bis heute das größte Krankenhaus und zugleich wissenschaftliche Forschungszentrum der Ersten Hilfe, das bei plötzlichen und akuten Erkrankungen, bei schweren Unfällen und Verletzungen für den Erhalt des Lebens den Kampf zieht. Von ihren leitenden Chirurgen und erst recht von den Leitern dieser unikalen medizinischen Einrichtung, zu denen auch S. S. Judin gehört hat, wird sehr viel abverlangt. Um in diesem sehr umfangreichen Tätigkeitsfeld erfolgreich sein zu können, braucht man ein universelles medizinisches Wissen, aber auch eine sehr tiefe Kenntnis anderer, an die Medizin angrenzender Wissenschaften wie Physiologie. Biologie, Biochemie usw. Es ist notwendig, schnelle Entscheidungen zu treffen, wozu es einer sehr flexiblen Art des Denkens bedarf und man eine hochentwickelte Intuition braucht. Eine blinde Anwendung von Dogmen und Schemata ist hier fehl am Platz. Man braucht bei der Suche nach den Zusammenhängen und bei all dem, was man tun, glühende Leidenschaft und Wagemut und bei seiner Arbeit einen unversiegbaren Fleiß.

Judin war mit allen diesen Charakterzügen in vollem Maße ausgestattet. Sie befanden sich in ihm zu dem auch noch in harmonischem Einklang mit einer Reihe von einigen anderen bemerkenswerten individuellen Besonderheiten. Er war ein Kenner und Liebhaber der Literatur und der Kunst und besaß auch ohne Zweifel Talent, Musik selbst zum Klingen zu bringen. Seiner Feder entsprang eine Reihe von Essays philosophischen und publizistischen Charakters, die ihren Ideen und ihrem Stil nach hervorragend sind. Er war ein glühender Verehrer der Bildenden Kunst. Er galt selbst unter den bekanntesten Malern als einer ihrer bedeutendsten Kenner.

Seine umfangreichen und sehr vielschichtigen Interessen und Schwärmereien wurden jedoch beherrscht von seinem Gefühl für die Pflicht in seiner Tätigkeit als Arzt und als Bürger seines Staates. Selbst seine so geliebte Musik machte er zur Magd seiner eigentlichen Tätigkeit, der Chirurgie. Er war mit aller Kraft davon überzeugt – und er war in allem, was er tat, voller Leidenschaft und ein Maximalist – dass es zwischen der Wissenschaft, unter der er in erster Linie die Medizin verstand, und der Kunst keinen wesentlichen Unterschied, keine Trennwand gibt. Deshalb hat er sich bemüht, die Chirurgie zu einer Kunst zu erheben, und hat dies bei seinen Operationen und Behandlungen vieler Wunden und Erkrankungen in der Tat auch bewiesen. Er wurde dafür in unserem Land sowie auch im Ausland gefeiert. Er war als der bedeutendste Experte auf dem Gebiet der Bauchchirurgie bekannt und wurde von vielen für seine praktische Tätigkeit, aber auch für seine Forschungsarbeit auf diesem schwierigen Gebiet der Medizin verehrt.

Sergej Sergejewitsch schränkte dann plötzlich im Juni 1941 seine Arbeit in der Bauchchirurgie ein, als ob er damit plötzlich alles, was er auf diesem schwierigen Gebiet erreicht hatte, ausradieren wollte. Stattdessen begann er hartnäckig an einem völlig anderen Gebiet der menschlichen Pathologie zu arbeiten —  an Zerstörungen von Knochen und Gelenken durch Schusswunden. Er wandte sich plötzlich Operationen dieser Art zu, was, der Logik der Dinge entsprechend, eine ganze Reihe von zusätzlichen Anstrengungen von ihm erforderte.

Es versteht sich von selbst, dass eine solche Koryphäe wie Professor S. S. Judin auch während des Krieges seiner gewohnten Tätigkeit auf seinem Fachgebiet weiter nachgehen hätte können, denn Operationen an den Organen im Bauchraum waren immer nötig. Doch er hat es offensichtlich gewusst, dass es erstens in der Armee in erster Linie zu Verwundungen an den Gliedmaßen kommt,  also zu Verletzungen an Knochen und den Gelenken, und dass zweitens die Verletzten im Bauchraum, die eine unverzügliche Hilfe benötigen, unverzüglich in den Lazaretten an der Front, an der Feuerlinie, operiert werden müssen, wohin man ihn selbst für eine ständige Tätigkeit nicht gelassen hätte. Auch wenn er sich bis dorthin durchgeschlagen hätte, wäre es doch für ihn dort wegen seiner angeschlagenen Gesundheit und seines in seinem sechsten Lebensjahrzehnt bereits fortgeschrittenen Alters schwer gewesen, sich dort lange halten zu können.

Seine Entschlossenheit, sich einem neuen Arbeitsfeld in seiner chirurgischen Tätigkeit zuzuwenden, ist ein Beweis für seine feste Überzeugung, dass für die Zeit des Krieges gerade auf diesem Gebiet sein Wissen, seine Erfahrung und sein seltenes chirurgisches Talent von besonderem Nutzen sein wird. Auf diese Weise hat sich Judin, wie es einige behauptet haben, in keiner Weise selbst verraten. Diese Entscheidung war ganz im Gegenteil eine eindrucksvolle Bestätigung seiner unverbrüchlichen Treue zu sich selbst.

Die vielseitige Begabung von Sergej Sergejewistch erlaubte es ihm, dieses für ihn neue Feld der Chirurgie schnell zu erlernen und so schon bald den Kampf für jedes einzelne Leben aufzunehmen. Er hat aber auch hier schon sehr schnell neue Wege eingeschlagen, ganz in seinem eigenen pionierhaften Sinne, und auf diese Weise viele vor einem Leben im Rollstuhl oder einem frühzeitigen Tod bewahrt. Diese neuen Wege wie auch vieles andere von dem, was er damals für die Militärmedizin Wichtiges und Nützliches getan hat — und somit für die Opfer im Kampf für die gerechte Sache, hat er uns selbst gezeigt. Aus diesem Grunde nämlich ist Professor S. S. Judin mit seinem Kollektiv von Chirurgen zu uns in das Notlazarett Nr. 3829 an die Front vor Kalinin gekommen.

Dieser hochgewachsene und wie eine Gerte magere Mann, mit zielgerichtetem Blick und langen, kräftigen Fingern hat genau so ausgesehen, wie ich ihn noch von seinen vielen Porträts,  die von hervorragenden Künstlern geschaffen worden waren, im Gedächtnis hatte: leicht nach vorn gebeugt und kraftvoll, hitzig und mit einem alles durchbohrenden Blick hinter den Gläsern seiner Brille. Er hatte einen ernsten Gesichtsausdruck und doch mit einem leicht ironischen Lächeln. Die Künstler haben ihn meist im weißen Kittel dargestellt, wie er gerade dabei war, eine Operation vorzubereiten. Doch nun stand er vor uns in einer gebügelten Militäruniform, und diese stand ihm gut.

Nachdem ich ihn und sein Kollektiv als unsere Gäste willkommen geheißen und ihnen einige unsere Militärärzte vorgestellt hatte, die in dieser Zeit mit mir zusammenarbeiteten, bat ich Judin, wenn es ihm genehm sei, sich mit den Grundzügen der Arbeit unseres Kollektives in unserem Krankenhaus vertraut zu machen. Wohlwollend stimmte er dem zu.

Aus dem, was uns von Judin daraufhin mitgeteilt wurde, ging in erster Linie hervor, dass es solche Kollektive wie das seine, mit einem leitenden Chirurgen an der Spitze, der er seinem damaligen Posten nach war, jetzt an allen Fronten geben wird. Sie waren von der Obersten Behörde für Militärlazarette beim Kommando der Streitkräfte der UdSSR geschickt und sollten mit den leitenden Chirurgen und den Oberschwestern in den Operationssälen in allen an der Front eingerichteten Lazarette unmittelbar zusammenarbeiten und so auf ganz praktische Weise diagnostische Methoden zur Untersuchung von Verwundeten und Vorgehensweisen bei chirurgischen Eingriffen zur Behandlung von Schusswunden demonstrieren, zu denen man aufgrund der Erfahrungen im Krieg gekommen und die vom Obersten Chirurgen der Roten Armee N.N Burdenko als bindend erklärt worden waren.

Alle dachten, dass es hierbei in erster Linie um Verletzungen im Bauchraum gehen wird, weil allen Professor Judin als ein hervorragender Meister auf dem Gebiet der Bauchchirurgie bekannt war. Doch vielmehr lenkte er das Gespräch auf infizierte (durch Mikroben verschmutzte) Wunden und auf Zertrümmerungen der großen Gelenke und der langen Röhrenknochen. Am Anfang, als er noch allgemeine Dinge behandelte, war er zurückhaltend und ohne Eile. Als er sich jedoch der chirurgischen Thematik zuwandte, begann er voller Leidenschaft zu sprechen und akzentuierte seine Worte mit ausdrucksvollen Gesten. Wir kamen in den Genuss einer eindrucksvollen Vorlesung über die Verletzungen verschiedenster Organe und Systeme im Organismus, die von Einschüssen bewirkt werden können, sowie über sämtliche möglichen Kombinationen von Komplikationen in deren Folge. Es ging einerseits um lebensbedrohende Infektionen und um Wege, bei solchen Verletzungen Blutvergiftungen zu verhindern, aber auch um viele andere nicht weniger wichtige Dinge, die es bei solchen Verletzungen zu beachten gibt. Man kann nicht sagen, dass Judin uns in allem etwas Neues eröffnet hat, etwas, was uns bis dahin nicht bekannt war. Doch seine umfassende Analyse aller dieser Probleme war für jeden von uns sehr wichtig, denn vieles von dem, was uns schon lange bekannt war, hatte durch die Art und Weise seiner Ausführungen noch einmal einen besonderen Charakter bekommen, was sich für uns  Ärzte als Nützlich erwies.

Nachdem er dann wieder zu einem trockenen und sachlichen Ton zurückgekehrt war, machte uns der Professor kurz mit der Arbeitsweise sowie mit den Plänen seines Kollektives bekannt und unterstrich dabei – er sah dabei auf mich – dass er viele von denen, die er im Lazarett operieren wird, zur weiteren Beobachtung und Behandlung nach Moskau schicken möchte, in das nach N.W. Sklifosowskij benannte Institut. Ich konnte nur antworten, dass ich zur Klärung dieser Fragen nicht befugt sei, versprach aber, noch am gleichen Tag diese Bitte mit den dafür Zuständigen zu besprechen.

Bereits am gleichen Tag wurde damit begonnen, diese Musteroperationen, die sich das Kollektiv von Chirurgen unter der Leitung von S. S. Judin anschickte durchzuführen, umfassend vorzubereiten. Neben der Integrierung seines Kollektives in unseren Arbeitsablauf waren wir jedoch noch angehalten worden, uns noch um weitere mehr als 100 Teilnehmern, die an diesem besonderen Kurs zur chirurgischen Praxis im Krieg teilnehmen sollten, zu kümmern. Alle 55 Militärkrankenhäuser der Stadt Kalinin sollten dazu ihre Vertreter schicken. Wir mussten sie über die Tage und Uhrzeiten der Unterrichtseinheiten informieren, sodass sie rechtzeitig auf ihrer Arbeit Vorkehrungen treffen konnten, um von ihren Leitern für diese Zeit von der Arbeit freigestellt zu werden. Eigentlich hatten wir mit unseren alltäglichen Aufgaben im Krankenhaus schon mehr als genug zu tun. Deshalb konnte ich, als mich Judin nach unserer ersten Zusammenkunft bereits aus seinem Arbeitszimmer im Krankenhaus anrief und fragte, wann sein Kollektiv mit der Arbeit beginnen könne, nicht sofort antworten. Nachdem er sich mit unserem Arbeitszeitplan vertraut gemacht hatte, in dem zwei Tage für alle vorbereitenden Maßnahmen vorgesehen waren, schien der Professor sich beruhigt zu haben. Doch am Ende konnte er es nicht unterlassen und hat in einem gewissen gereizten Ton gesagt:

— Sie verstehen doch, was für eine Aufgabe man uns übertragen hat. Es ist nicht viel Zeit, wie haben nur zwei Monate …

Dieser gereizte Ton gefiel mir gut.

Am nächsten Morgen, nach der Morgenvisite, bat Judin mich und den leitenden Chirurgen, ihn für eine Beratung in den Operationsblock zu begleiten, wo er und sein Kollektiv sich auf ihre Weise, so wie sie es gewohnt waren, einrichteten, und bat deshalb um Hilfe von unserer Wirtschaftsabteilung.

Er erklärte uns seine Ideen folgendermaßen:

— Alles hier hat seine Bedeutung. Sowohl die Anordnung der Operationstische, der Ort für die Operationsschwestern (darauf legte er besonderes Augenmerk), als auch die Beleuchtung und die Wege, auf denen die Verwundeten in den Operationsraum und wieder zurück in die Krankenzimmer gebracht werden. Alles sollte von Anfang bis zum Ende gut durchdacht sein. Ja, es ist nötig, für das portable Röntgengerät einen Platz zu finden, dafür muss eine Stromleitung gelegt werden und die Operationstische müssen so aufgestellt werden, dass die Assistenten sich bei der Arbeit nicht gegenseitig behindern, da ich gleichzeitig an drei Operationstischen arbeiten werde.

Zum Abschied sagte er mir:

— Vergessen Sie nicht Platz zu schaffen für Gipsbinden in der Nähe der drei Zugapparate, die wir für unsere Arbeit brauchen.

Ich muss zugeben, dass ich damals diesen Ausdruck das erste Mal gehört habe, und habe deshalb Juri Semjonowitsch gefragt:

— Haben Sie solche Apparate schon einmal gesehen?

— Natürlich, machen Sie sich keine Sorgen! – antwortete er lax.

Da ich jedoch unseren leitenden Chirurgen schon ziemlich gut kannte, habe ich sofort richtig begriffen, dass auch er von diesen Zugapparaten zum ersten Mal gehört hatte. Doch das war nicht so wichtig, denn das Entscheidende bestand vielmehr darin, dass, wenn Mironenko es so überzeugt behauptet hatte, dies bedeutete, dass alles zur rechten Zeit herbeigeschafft werden wird, so wie es sein soll.

In der Nacht wurde eine große Zahl von Verwundeten zur weiteren Behandlung in spezialisierte Krankenhäuser weit ins Hinterland gebracht. Der Abtransport geschah geordnet, ohne dass wir von der feindlichen Luftwaffe beschossen worden sind. Es ging alles ohne Unannehmlichkeiten vonstatten und bei der Auswahl der Verwundeten war uns kein Fehler unterlaufen. Niemand wurde nach der Kontrolle auf dem Evakuierungsstützpunkt, der sich schon auf dem Bahnhof befand, zu uns zurückgeschickt.

Am Morgen erreichte uns ein neuer gemischter Sanitätszug, in dem Verwundete aus verschiedenen Truppenteilen zu uns gebracht wurden. Der größte Teil der Soldaten, die sich im Zug befanden und zu uns in das Lazarett Nr. 3829 gebracht wurden, waren schwer verletzt an den Beinen oder den Gelenken.

Um auch nur die geringste Verzögerung bei der Gewährleistung der nötigen Hilfe zu vermeiden, haben wir einen Großeinsatz unter Hinzuziehung aller unsere Kräfte ausgerufen. Alle Mitarbeiter der chirurgischen Abteilung sowie alle Ärzte und Krankenschwestern wurden in die Notaufnahme gerufen, wo die eingetroffenen Verwundeten „sortiert“ werden sollten.

Ich war sehr erfreut, als ich neben meinen vielen freiwilligen Helfern an der Seite von S. W.  Sawogina und ihrer Kameraden auch einige von den Ärzten aus dem Kollektiv von Judin erblickte. Sie waren nicht gebeten worden, sondern sie waren von selbst gekommen, als sie von dem Arbeitseinsatz für alle gehört hatten. Die Assistenten des Professors und seine Chirurgen machten mit, als wir die Neuankömmlinge begutachteten und die Diagnosen prüften, die auf ihren Krankenkarten, die jedem Verwundeten von der Front her mitgegeben wurden, verzeichnet waren. Die Krankenschwestern aus Judins Kollektiv verbanden die Verwundeten und halfen den Chirurgen, bei Blutungen schnelle Hilfe zu leisten.

Bald kam auch Sergej Sergejewitsch, der aus diesem Grunde früher als gewöhnlich aufgestanden war.

Kurz davor hatte Zoja Vasiljewna mir gegenüber ihre sie beunruhigenden Zweifel bezüglich der Richtigkeit einiger Diagnosen, die von den Sanitätern an der Front gestellt worden waren, geäußert. Wir hatten mit ihr zusammen 12 Soldaten untersucht und zur sofortigen chirurgischen Behandlung geschickt, bei denen wir Anzeichen auf eine besonders gefährliche Infektion festgestellt hatten. Drei hatten wir zu einer zusätzlichen Röntgenkontrolle geschickt, doch  in zwei Fällen waren wir uns nicht genügend sicher und habe so Judin um Hilfe gebeten.

Er schaute sich beide Verletzten sehr aufmerksam an und äußerte seine Vermutung bezüglich des Charakters ihrer Leiden, die in Folge einer Schusswunde aufgetreten waren. Weitere Untersuchungen bestätigten dann seine Vermutungen. Einer der Verwundeten sollte dann auf Vorschlag von Sergej Sergejewitsch durch sein Kollektiv sofort operiert werden. Am Vorabend hatte nun die „Heilung von der Behandlung“, wie einer unserer Witzbolde die Musteroperationen getauft hatte, begonnen. Ich hatte Judin über den Stand der Dinge informiert. Dieser war folgender: Die Verwundeten sind für die Operation vorbereitet, alle Zuhörer sind informiert und kommen zu 8 Uhr morgens. Die nötigen Umräumarbeiten im Operationsblock sind erfolgt, das portable Röntgengerät an das Stromnetz angeschlossen, die Operationstische so aufgestellt, wie es verabredet war und die Zugapparate sind an Ort und Stelle. …

Nachdem er für die Informationen gedankt hatte, sagte er:

— Vielleicht haben andere etwas einzuwenden und sind mit dem einen oder anderen nicht einverstanden, ich jedoch bin mit der getanen Arbeit zufrieden. Das Einzige jedoch, was mir das Leben schwer machen wird, ist ein Beginn der Operationen, der sich nicht in meinen Tagesrhythmus einfügt.

Diese Bemerkung brachte mich etwas in Schwierigkeiten, denn ich wusste nicht, von was für einem Rhythmus er da sprach. Doch dort fügte Judin hinzu:

— Da Sie bereits alle Kollegen über die von ihnen vorgeschlagene Zeit informiert haben, möge es morgen so sein. Des Weiteren jedoch werden wir erst um 9 Uhr mit der Arbeit beginnen. Ich denke, wir können uns mit den Kollegen einigen.

Das haben wir dann auch getan. Nur am Anfang kam es mir nicht in den Sinn, warum für einen so energischen und temperamentvollen Chirurgen eine Stunde am Morgen bei der Tatsache, dass wir uns an der Front befanden, so wichtig sein kann. Erst nachdem ich den Professor mit der Zeit ein wenig mehr kennengelernt hatte, habe ich erfahren, dass er diese Zeit seiner Lieblingsbeschäftigung widmete – dem Spiel auf der Geige.

Bevor wir uns verabschiedeten, stellte mir Sergej Sergejewitsch noch eine letzte Frage:

— Und wie steht es um den Abtransport der operierten Verwundeten?

— Alles in Ordnung – erwiderte ich – sobald die Operierten dazu in der Lage sind, in einem Sanitätszug transportiert zu werden, werden sie nach Moskau in das Sklifosowskij-Institut gebracht.

Am nächsten Tag versammelten sich genau zur verabredeten Zeit vor dem Operationsblock unseres Lazaretts Nr. 3829 alle leitenden Chirurgen und Operationsschwestern der Stadt Kalinin. Es war auch der Hauptchirurg der Front Professor I. A. Kriworotow gekommen. Wie es sich gehört, zogen alle einen Kittel und Stoffstiefel an. Pünktlich um 8 Uhr wurden die Verletzten gebracht. Mit ihnen zusammen begaben sich auch Judin und seine Assistenten und ihnen auf dem Fuß folgend die Chirurgen aus Kalinin in den Operationssaal.

Der weitläufige Operationssaal, den ich mit eingerichtet und ausgestaltet hatte, sah dieses Mal etwas ungewöhnlich aus. Es gab nur drei Operationstische. Diese waren in einem solchen Abstand zueinander aufgestellt, dass es für einen Chirurgen, der gleichzeitig an drei Operationstischen arbeitete, bequem war. Aber auch die Tischchen der Operationsschwestern und derjenigen Schwestern, die für das Verbinden und Gipsen zuständig waren, standen anders als sonst. Rechts von den Operationstischen glänzte in seiner metallischen Verkleidung der portable Röntgenapparat (er unterschied sich eigentlich in keiner Weise von den normalen Röntgenapparaten in den Krankenhäusern). Links von ihm standen die Zugapparate in Reih und Glied. Sie glichen irgendwelchen fantastischen Robotern. Wir hatten uns mit ihnen bereits vertraut gemacht, sie waren tatkräftige Helfer beim Vergipsen gebrochener Gliedmaßen. Ungeachtet der Tatsache, dass die zur Tarnung an den Fenstern angebrachten Leinwände aufgezogen waren — sie verschlossen gewöhnlich die Fenster und waren von außen schwarz und von innen weiß – leuchteten über den Operationstischen starke elektrische Lampen. Man hatte das Gefühl, dass alles, was in diesem Raum vor sich ging, sehr bedeutend war. Dieses Mal war dieses Gefühl besonders stark.

Vielleicht war es auch nur deshalb, weil nun über 100 Zuschauer anwesend waren. Wir standen an der Wand auf Bänken unterschiedlicher Höhe. Ich fühlte mich an meine Jahre als Student in einem Hörsaal erinnert, nur dass es hier um viel ernsthaftere Dinge ging.

Vor dem Beginn der Operation erklärte Professor Judin den Anwesenden mit leiser Stimme, was er unter Chirurgie versteht und wie er die Person des Chirurgen sieht.

— Nicht eine einzige menschliche Tätigkeit vereinigt in sich so verschiedene menschliche Eigenschaften und spezielle Fähigkeiten wie die Chirurgie. Hier braucht man das Feingefühl und die Schnelligkeit der Finger eines Geigers, das scharfe Auge eines Jägers, die Fähigkeit eines Künstlers, feinste Farbnuancen und Töne zu unterscheiden, die Genauigkeit einer Spitzenklöpplerin bzw. Stickerin sowie die Meisterschaft eines Zuschneiders. Von großer Wichtigkeit ist jedoch auch, dass man blind eine Naht nähen und einen Knoten machen kann. Sehr viele chirurgische Operationen an den Gliedmaßen ähneln meisterhaften Tischlerarbeiten, denn die Bearbeitung von Knochen bedarf in vielen Fällen feinster chirurgischer Handgriffe.

Um seine Gedanken noch konkreter zu erläutern, fuhr Judin fort:

— Operationen am Gesicht, an den Wangen und den Augenlidern ähneln künstlerischen Stickereien oder Intarsien aus Perlmutt oder kostbaren Holzsorten. Die ungeheure Kompliziertheit des Aufbaus und der Lage der Organe im Bauchbereich erfordert von einem Chirurgen, besonders bei Schusswunden, die Kenntnis und die Verständigkeit eines Architekten und Ingenieurs, den Wagemut und die Entschlossenheit eines Heerführers sowie das Verantwortungsgefühl eines Juristen oder Staatsbeamten. Es ist wichtig, sich genau orientieren zu können und eine tadellose Technik des Nähens zu beherrschen.

Zum Schluss fügte er noch hinzu:

— Die Chirurgie als Wissenschaft trifft natürlich nicht immer auf organische Weise auf künstlerische Fähigkeit bei einem Chirurgen. Doch unsere Aufgabe ist es, danach zu streben.

Nach diesen Worten begann Judin mit der Operation. Das erste, was die besondere Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog, war seine Methode, eine Rückenmarksanästhesie vorzunehmen. Heute ist sie überall anerkannt und quasi Routine geworden. Damals jedoch war sie für die meisten der Anwesenden etwas Neues, für einige sogar auch so etwas wie eine Häresie. Nach der traditionellen Bearbeitung des Operationsfeldes führte er blitzschnell die Nadel einer kleinen Spritze, in dem sich ein Schmerzmittel befand, in den Rückenmarkskanal ein. Nach einigen Minuten wurde untere Teil des Körpers taub und verlor seine Empfindlichkeit.

Allen drei Verwundeten, die auf den Operationstischen lagen, wurde diese Injektion verabreicht. Alle hatten verschiedene schwere Verwundungen am Oberschenkel und in den Kniegelenken. Und alle drei wurden erfolgreich von dem Operationskollektiv von Professor Judin operiert.

Die Haut bearbeitete Sergej Sergejewitsch unter einem Strahl warmen Wassers mit sterilen Bürsten. Dies haben wir das erste Mal so gesehen. Gewöhnlich wurde in den Krankenhäusern die Haut mit Hilfe irgendeines Antiseptikums behandelt. Judin zog es dagegen vor, die Hautbedeckungen mit heißem Wasser und Seife von Blut und Eiter zu befreien. Dann machte er sich an die traditionelle Vorbereitung des Operationsfeldes (mit Alkohol und Jod), und der Verwundete war nun bereit zu einem unmittelbaren chirurgischen Eingriff, obwohl er alles hörte und sah, dabei jedoch nichts von dem spürte, was in seinem Unterkörper geschah.

An diesem Tag haben wir das erste Mal begriffen, wie wirksam die Judinsche Methode zu operieren für diejenige war, die am Oberschenkel und in den Gelenken verletzt worden sind. Bald ist seine Methode — und das zu Recht — berühmt geworden. Die ihr vorangegangene Methoden aus der Zeit vor dem Krieg, ja sogar auch die neuste von ihnen, die der Professor T. I. Schaer entwickelt hatte, mit eingeschlossen, konnten bei einem chirurgischen Eingriff zur Behandlung solcher Verletzungen in nicht wenigen Fällen weder die Rettung des Beines noch den Erhalt des Lebens garantieren. Die Methode von Judin versprach sowohl das eine wie auch das andere.

Der Pionier unter den Chirurgen hat die Wunde zunächst sehr weitläufig bearbeitet und alle zertrümmerten Knochenteile und Muskeln bis an die Grenze zum gesunden Gewebe entfernt. Dabei hat er jedoch die Knochenhaut und die mit ihr verbundenen Knochenreste, sowie die Nerven- und Blutgefäßbündel nicht angerührt. Danach gab er mit Hilfe eines speziellen Zerstäubers, der nach seinen Plänen gefertigt worden war, Sulfonamide in die Wunde. Das gesamte operierte Bein wurde daraufhin mit Hilfe des Zugapparates in einen dumpfen Gipsverband eingepackt, der Koxtis genannt wurde. Diese Art von Verband wurde erstmalig von dem großen Pirogow in die medizinische Praxis eingeführt und er garantierte die absolute Ruhe für die in Mitleidenschaft gezogenen Beine oder Arme, saugte in sich selbst den Eiter auf und gab so dem Knochen die Möglichkeit, sich selbst zu regenerieren und dem weichen zerstörten Gewebe zuzuheilen. Das Ergebnis war, dass nach der dafür nötigen Zeit die zu Invaliden gewordenen Menschen quasi neu geboren wurden. Die Beweglichkeit der Gelenke konnte wiederhergestellt werden. Ebenso bestand auch für die Verwundeten bestand nicht mehr die tödliche Bedrohung einer Blutvergiftung, die man bei den früheren Methoden eines chirurgischen Eingriffs an solcher Art von Wunden oft riskiert hatte.

Wie meisterhaft Judin operierte, haben alle Anwesenden bestaunen können. Seine Tätigkeit während der Operation kann man mit zwei Worten charakterisieren: Zeigen und Erklären.

— Wenn ich zerstörtes Gewebe entferne – so unterstrich er – ist es wichtig, das Bündel aus Blutgefäßen und Nerven sowie die Knochenhaut zu erhalten.

Er wiederholte immer wieder:

— Denken Sie daran, dass sogar bei völliger Entfernung der schwammigen Stoffe des Knochens die Knochenhaut in der Lage ist, diesen zu regenerieren.

Bei drei Operationen, die Sergej Sergejewitsch vor unseren Augen gleichzeitig durchgeführt hat, haben beide seiner Assistenz-Chirurgen völlig selbstständig sowohl die vorbereitenden Arbeiten als auch die am Ende der Operation vorgenommen. Ebenso auch die zweitrangigen Tätigkeiten, die bereits nach Beendigung der Operation noch nötig sind. Sie haben unter anderem selbst die Knochensplitter entfernt, den Rand der Wunde vergrößert und sie dann auch vernäht.

Direkt für Judin assistierte die Operationsschwester M. P. Golikowa. Marina Petrowna hat ihm nicht nur alle chirurgischen Instrumente angereicht, sondern auch aktiv bei den besonders verantwortungsvollen Momenten der Operation (bei der Behandlung der Blutgefäße und Nerven, bei der Bewahrung kleiner Knochensplitter, die an der Knochenhaut verhaften waren) in die Operation eingegriffen und ihm quasi wie der erste Assistent tätige Unterstützung erwiesen. Sie wusste sehr genau, in welcher Abfolge Judin seine Operation durchführt, sie fühlte jeden seiner Handgriffe und hat einen großen Anteil daran, dass selbst ein sehr komplizierter chirurgischer Eingriff erfolgreich beendet werden konnte.

Das Kollektiv von Judin (er, M. P. Golikowa, zwei Assistenten, ein Röntgenspezialist und zwei Schwestern, die sich um das Gipsanlegen und Verbinden kümmerten) war gemeinsam mit den von ihnen mitgebrachten Apparaturen und Instrumenten quasi wie eine selbständige Kampftruppe. Es kämpfte für das Leben der Verwundeten. Jeden Tag operierte das Team viele Soldaten mit schweren Verletzungen und unterweis dabei gleichzeitig die führenden Chirurgen und Oberschwestern aus der Umgebung darin, welche Taktik des chirurgischen Eingriffs für die verschiedensten Verwundungen an Arm und Bein die beste ist. Jeden Tag lehrte und zeigte uns Judin irgendetwas Neues in der Feldchirurgie. Dabei haben natürlich auch er selbst und seine Helfer ihre Fähigkeiten vervollkommnet. In der Chirurgie darf es keine Schablonen geben, jede Operation hat ihre ganz eigenen und unverwechselbaren Züge. Jede entwickelt sich nach ihrem ganz eigenen Plan, immer abhängig von dem Grad und der Schwere der Verwundung und davon, ob es bei dem Eingriff Komplikationen gibt oder nicht.

Obwohl der Arbeitstag des Professors erst um neun Uhr begann, fing er doch in der Tat schon anderthalb Stunden früher an — mit einem ganz eigenen Präludium. Ich erinnere mich noch, wie mich plötzlich, schon bald nach dem Eintreffen von Judins Kollektiv bei uns, während eines morgigen Rundgangs durch das Lazarett, den ich von Zeit zu Zeit selbst vornahm, wenn sich viele Dinge, die zu erledigen waren, angesammelt hatten, eine zärtliche Melodie auf der Violine ins Staunen setzte und warm anrührte. Sie kam aus der zweiten Etage des Zentralbaus. Ich blieb wie angewurzelt stehen und wäre fast gestolpert. Die Krankenschwester, die gerade vorbeiging, wies mit einer Augenbewegung auf das Arbeitszimmer von Judin.

— So ist es jeden Morgen! … – sagte sie leise und lächelte, ohne zu erkennen zu geben, ob sie dies aus Begeisterung tat oder aber aus Befremden.

Es zeigte sich also, dass der Professor in der Tat schon viele Jahre lang die Morgenstunde seiner Violine widmete. Für ihn war das nicht irgendeine Macke, sondern ein zur Gewöhnung gewordenes und gut durchdachtes Training sowohl der Finger als auch der Handmuskulatur, das verbunden war mit einem emotionalen Auftanken, was für ihn immer mit der Musik verbunden war. Einmal sind wir darüber kurz vor Abreise des Kollektivs mit Marina Petrowna ins Gespräch gekommen. Sie hat gemeint:

— Wenn Sie sein Gesicht sehen könnten, seine Hände und seine Finger während seines Spiels auf der Geige, dann würden sie verstehen, dass Judin ohne dieses Trainings und ohne diese Anspannung nicht Judin wäre.

Um neun Uhr begannen dann die Operationen. Neun weitere Stunden im Operationsraum vergingen wie im Fluge. Alle waren voller Anspannung, die unsere Körper wie einen eisernen Topf zum Glühen brachte.

Gemeinsam mit den diensthabenden Ärzten nahm auch Judin an der abendlichen Visite in der chirurgischen Abteilung teil. Die Schwerverwundeten erhoben voller Hoffnung ihre Augenlider für ihn. Wenn er ihnen dann in die Augen blickte, hatte er immer ein Lächeln für sie. Er schaute sich die Verwundeten an und teilte manchmal den anderen Ärzten seine Meinung mit. Er machte auf sehr delikate Weise Bemerkungen zu konkreten Fällen und gab Ratschläge zu der einen oder anderen Therapieform. Dabei wählte er in der Regel gleich diejenigen aus, die er am nächsten Tag operieren wollte. Diese sah er sich dann besonders genau an, studierte intensiv ihre Krankenakte und konsultierte sich mit den behandelnden Ärzten.

Es kam auch vor, dass man ihn in besonders schwierigen Fällen oder bei völliger Unklarheit, was die diagnostische Einordung eines Patienten anging, direkt um Rat bat. Dabei haben wir Sergej Sergejewitsch jedoch stets vor Überlastungen bewahrt. Doch er selbst war es immer wieder, der darum bat, ihn bei den sogenannten lebensgefährlichen Operationen (bei plötzlichen Blutstürzen, bei sich häufenden Anzeichen einer Bauchfellentzündung usw.) zu Rate zu ziehen. Dann erschien er auch, wenn man ihn rief, in der Nacht.

Er hat sein Wissen und seine Erfahrung immer sehr wohlwollend mit anderen Kollegen geteilt, besonders mit den jungen. Auch in den Gesprächen mit den Ärzten und in den abendlichen Gesprächen mit mir nach der Visite ist er nicht müde geworden, uns an unsere oberste Pflicht zu erinnern, auf strengste Weise die verschiedenen Seiten der Tätigkeit eines Chirurgen zu analysieren.

— Die Analyse von dramatischen Verläufen als Ergebnis von fatalen Fehlern – meinte Sergej Sergejewitsch – ist das einzig Richtige, was ein Arzt machen sollte. Seinen Fehler als Arzt sehr ausführlich darzustellen,  kann man auf verschiedene Weise. Je intimer und wahrheitsgetreuer man die emotionale und menschliche Seite dieses Fehlers beleuchtet, umso tiefer dringt sein Wesen in die Seele der Ärzte ein und umso eindringlicher bleibt er in den Köpfen dieser haften und bewahrt sie vor ähnlichen Fehlentscheidungen in der Zukunft.

Voller Schmerz erinnerte sich Judin an eigene, ungewollte Fehler in seiner eigenen fernen Vergangenheit.

— 1919 – so erzählte er – habe ich einmal eine chronische Darmverschlingung bei einer 30-jährigen Frau nicht erkannt. Nach der Erzählung ihres Mannes deuteten alle Hinweise auf eine solche Verschlingung hin, doch als ich ankam, waren alle diese Symptome wie verschwunden und so entschied ich, dass sich wohl meine zunächst vermutete Diagnose nicht zu bestätigen schien. Ich verschrieb ihr deshalb eine entsprechende prophylaktische Therapie und fuhr wieder fort. Am nächsten Morgen dann, als ich die Kranke wieder aufsuchte, fand ich sie ohne Puls. Es waren vier kleine Kinder zu Waisen geworden – zwei ihrer eigenen Kinder und zwei ihrer Schwester, die kurz vorher gestorben war.

Er atmete tief und schwieg. Scheinbar gedachte er erneut aller seiner seelischen Wunden, die seine Fehler in der Jugendzeit in ihm hinterlassen haben.

— Von den technischen Fehlern kann ich nicht vergessen, wie ich einmal 1915 in einem Lazarett in Koptew bei der Entfernung eines abgestorbenen Knochenteils wegen einer vereiterten Schusswunde in der Schulter eines Soldaten den Speichennerv verschnürt habe und die Hand daraufhin aufgehört hat, zu funktionieren. 1918 habe ich während einer Operation im Kreiskrankenhaus von Tula bei einem 17-jährigen Mädchen, das ich an den Lymphknoten am Hals operiert habe, erstens ihre Drosselvene verletzt, weshalb wir die Kranke wegen ihres starken Blutverlustes fast verloren hätte (denn ich konnte keine Vene nähen, aus der das Blut in Strömen floss und die, wenn das Mädchen einatmete, aus dem Blickfeld verschwand und in einen Meer von Blut untertauchte) und zweitens in meiner Verzweiflung ihre Wunde auch noch nach oben hin vergrößert, wodurch ich eine Verästelung ihres Gesichtsnervs beschädigte und so ihr Gesicht verzogen worden ist. Der weise Alexander Herzen hat für solche Fällen wohl gemeint: „Wer etwas durchleben konnte, der sollte auch die Kraft dazu aufbringen, sich daran zu erinnern“. Niemals sollte man seine Fehler verstecken oder vergessen wollen. Und schon gar nicht im Krieg, wo es tagtäglich zu Fehlern kommen kann. Man sollte sich Zeit seines Lebens ihrer erinnern. Wenn sie auch weh tun mögen, sie dienen als Belehrung und ernüchternde Warnung! …

Nachdem ich dieser Beichte gelauscht hatte, dachte ich, dass diese Lehren, die das Leben dem herausragenden Chirurgen erteilt hatte, auch vielen anderen von Nutzen sein könnten, und habe deshalb mir Kulagin gesprochen. Er hat sich interessiert gezeigt und wir haben dann später im Frühsommer ein Seminar für junge Ärzte organisiert, dessen Zahl sich in den letzten Monaten vergrößert hat. Sein Thema lautete „Über Fehler in der Chirurgie und deren Gefährlichkeit “. In dem ich etwas vorgreife, möchte ich sagen, dass das Seminar ein Erfolg wurde.

Das Kollektiv mit Judin an seiner Spitze kam mit seiner Arbeit bei uns im Lazarett zu seinem Ende. Mehr als 200 Schwerstverletzte, sind von dem Professor erfolgreich operiert und zur endgültigen Heilung in das Sklifosowskij-Institut nach Moskau gebracht worden. Wie vielen jedoch haben seine neuen chirurgischen Methoden, Ratschläge und Konsultationen geholfen, die so viele Ärzte in ihre Lazarette mitgenommen haben! …

In allen Lazaretten an der Front ist mit Hilfe der Erfahrungen von Judin große und komplizierte Arbeit geleistet worden. Hier und dort hat man damit begonnen, die judinsche Methode zur chirurgischen Bearbeitung von Schusswunden anzuwenden, anderenorts hat man sich damit noch zurückgehalten, weil man erst einmal abwarten wollte, ob es bei anderen funktioniert. Natürlich besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was man hört und sieht, und dem, was man selbst tun soll. Dennoch haben sich viele der Chirurgen diese fortschrittlichen Neuheiten angeeignet.

Professor Taft, Mironenko und der Autor dieser Zeilen habe sich die judinschen Prinzipien relativ leicht angeeignet. Sie haben viel operiert, natürlich nicht so schnell und vollkommen wie Sergej Sergejewitsch, aber doch auf neuartige Weise und mit besseren Ergebnissen als früher und das zum Wohle der Verwundeten.

Einen wahren Nutzen haben uns auch die Zugapparate für die Eingipsung der Gliedmaßen erwiesen, die Judin zu uns gebracht hat und die dann in unserem Krankenhaus geblieben sind. Unser Krankenhausschlosser Sergej Kremnjew, der bei uns für seine „goldenen Hände“ bekannt war, hat nach ihrem Muster die für uns nötige Stückzahl dieser Geräte gefertigt.

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

 

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