27 Juli 2015| Jazenko Elena

Der Zweite Weltkrieg — „Gedenken durch das Familienalbum“

Elena Jazenko ist 21 Jahre alt. Sie studiert an der Philologischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, schreibt Gedichte und Prosa, reist gerne und das auch sehr gerne in die Ferne. Sie mag Tiere und England, Musik und Filme, Fotographie und Sport, das Meer und die Popkultur des 20. Jahrhunderts. Sie träumt davon, einmal Journalistin zu werden und die ganze Welt zu bereisen, angefangen bei Ländern Europas bis hin zur Antarktis. Danach hat sie vor, eine eigene Fotogalerie zu eröffnen, in der talentierte Fotografen beginnen können, ihren Weg zu finden. Die hier aus ihrem Familienalbum stammenden Fotographien hat uns Elena zur Verfügung gestellt, damit wir sie auf www.world-war.ru veröffentlichen.

Was bedeutet Gedenken? Jeder Mensch beantwortet diese Frage auf seine Weise. Mir kommen dabei ganz verschiedene Wege in den Sinn. Einer wäre für mich eine Fotografie. Fotos bewahren das Andenken an Menschen, an Ereignisse und Gefühle. Sie bringen uns Menschen in einen bestimmten Augenblick der Zeit zurück und helfen uns dabei, Geschehnisse vergangener Tage wiederzubeleben, selbst wenn man selbst gar nicht dabei gewesen ist.

Am 9. Mai dieses Jahres hat unser Land den 70. Jahrestag des Endes des Großen Vaterländischen Krieges gefeiert. Es gibt wohl kaum eine Familie, an der der Krieg, bei dem fast 30 Millionen Menschen den Tod gefunden haben, ohne Folgen vorübergegangen ist. Unsere Vorfahren haben für unser Leben, unser Glück und unseren Frieden heute gekämpft und ihr Leben gegeben, deshalb sollten wir ihre Heldentaten nie vergessen.

Meine Familie hat viele Fotos aus den Jahren des Krieges aufgehoben. Von grau-braunem, nach alter Zeit und dem Schimmel des Dachbodens riechenden Fotopapier schauen uns meine Urgroßväter und ihre Kameraden, die sie alle im Krieg gekämpft haben, etwas finster an. Jeder hatte sein ganz eigenes Schicksal. Der Krieg hat ihre Wege zusammen- und wieder auseinandergeführt. Der eine hat überlebt, der andere ist gefallen, vielleicht nur einige Meter vor Berlin oder nur wenige Tage, bevor der Sieg endlich errungen war. Einer hat eine Medaille bekommen, der andere ist einfach verschwunden, ohne das man weiß, wo.

Hier nun einiges aus unserer Familiengeschichte: Mein Großvater Andrej Stepanowistch Bruschenko war Oberstleutnant, hat den ganzen Krieg mitgekämpft und ist dabei bis an die Elbe vorgedrungen. Er war sogar bei der Schlacht um Berlin dabei. Damit ist aber eine traurige Geschichte verbunden. Ein deutscher Junge hat einen Freund meines Urgroßvaters getötet. Mein Urgroßvater hat es nicht ertragen und daraufhin den Jungen mit seinem Gewehr erschossen, wofür ihm seine Auszeichnungen und auch sein Rang als Oberstleutnant aberkannt worden sind: denn es war per Befehl verboten, die Zivilbevölkerung zu töten.

„Zum ehrenhaften Andenken für meinen Freund Wolodja von Andrjuscha. Wenn du mich in Ehren hältst, dann bewahre das Foto auf, wenn nicht, dann bitte ich dich, es mir zurückzuschicken. Während des Großen Vaterländischen Krieges, in Polen am 29. 3. 1945“ – ein Foto meines Urgroßvaters, der praktisch zu fast allen Fotografien aus dem Krieg, die wir bei uns zu Hause aufbewahren, irgendeinen Bezug hat.

 

„Ich schicke ein Foto von der Front im Großen Vaterländischen Krieg, von der Krim an die Eltern, von Andrej, damit sie ihn lange in Erinnerung behalten. 11. 5. 1944“. – Auf dem Foto sind sieben Personen, unter ihnen mein Urgroßvater. Alle Gesichter der Soldaten sind gezeichnet von der Erfahrung des Krieges. Es wäre interessant zu erfahren, was für ein Schicksal ihnen wiederfahren ist und in welche Richtungen es sie alle verschlagen hat.

 

„Für meinen Freund Andrej zum langen und freudigen Andenken an Kostja und an unsere zufällige Begegnung während des Großen Vaterländischen Krieges 1944“. Eine Ansichtskarte mit dem Foto einer kleinen Stadt im Gebiet von Iwano-Frankowsk in der Ukraine. Wahrscheinlich sind sich mein Urgroßvater und seine Freund dort über den Weg gelaufen. Diese Stadt ist ja auf dieser Ansichtskarte abgebildet.

 

„Ich schicke dieses Foto meinem Freund Grischa zum Andenken. Es ist von unserem Freund Stephan. Schau nur und erinnere dich! 1949. Neues Jahr!“ — Auf dieser Aufnahme sind zwei unbekannte Soldaten zu sehen. Der eine von ihnen hält eine Katze und versucht, diese auf einen Stuhl zu setzen. Der andere, wahrscheinlich ist er sogar jünger als ich: ein dürrer, kleiner Soldat mit sehr jungenhaften Gesichtszügen. Es ist schrecklich sich vorzustellen, dass er wohl direkt von der Schulbank in den Krieg einberufen worden ist. Wahrscheinlich hat mein Urgroßvater darum gebeten, dass dieses Foto seinem Freund übergeben wird, doch dann ist es durch den Willen des Schicksals in den Händen meines Urgroßvaters verblieben.

 

„Für meine Verwandten zum freudigen Andenken von ihrem Sohn Andrjuscha in den Tagen, als der Krieg gegen die deutschen Aggressoren zu Ende ging. Tschechien, an der Elbe. Ich bitte es aufzubewahren. 2. 6. 1945“. – Drei Kammeraden stehen am Ufer des Flusses. Der Krieg war fast beendet. Noch ein wenig und es war geschafft.

 

„Alles, was geblieben von meinen Freunden an der Front geblieben ist, ist, dass ich ihrer gedenke. An der Elbe in den letzten Tagen des Krieges. Möge mein Gedenken an sie auf immer in meinem Herzen leben. Es reicht an alles zu denken und mein Herz zieht sich seufzend zusammen. 13. 11. 1945“. – Mit diesen Worten hat einer der Kameraden meines Urgroßvaters dieses Foto überschrieben. Ich denke, dass eine Freundschaft an der Front unheimlich stark ist. Wenn Menschen in einem solchen Maße nicht voneinander scheiden wollen, dann kann man sich vorstellen, was sie zusammen durchleben mussten und wie sie zusammengeschweißt hat.

 

Mein Urgroßvater war ein wahrer Held, und er hat auch eine Heldin geheiratet. Meine Großmutter Clavdia hat auch gekämpft, befand sich im besetzten Gebiet und ist sogar mit einem Fallschirm gesprungen (Danach sind aus diesem eine Menge Kleider genäht worden, in verschiedenen Farben und unterschiedlicher Façon), weswegen ihre Mutter sie dann zwei Wochen lang in der Scheune versteckt hat, damit die Deutschen sie nicht finden. Der Vater meine Urgroßmutter, er hieß Iwan, ist in Stalingrad bei der Verteidigung eines Stadtgebiets gefallen, das die Deutschen völlig dem Erdboden gleichgemacht haben. Mein Ururgroßvater ist spurlos verschwunden. Von seiner Einheit ist nur einer am Leben geblieben. Leider gibt es von meiner Urgroßmutter keine Fotografien mehr. Die Faschisten haben alles ohne Ausnahme mitgenommen. Es gibt aber Bilder von ihren Cousins, die auch im Krieg waren.

„Für Tante Katja, Clavdia und Vasja zum Andenken von ihrem Neffen und Cousin M.J. Solowjow. Aus Bulgarien. Das Foto ist in Varna aufgenommen“. Der Cousin meiner Urgroßmutter hat auf dem Foto traurige und erschöpfte Augen. Der Krieg hat ihn müde gemacht. Er hat sicher viel durchgemacht.

 

„Für meine Cousine Clavdia Iwanowna zum Andenken von ihrem Cousin Pawel. Das Foto ist am 9.5.1945 in der Stadt Greifswald in Deutschland aufgenommen“. – Wie ist das wunderbar! Der Cousin meiner Urgroßmutter hat ihr ein Foto geschickt, das genau am Tag des Sieges aufgenommen worden ist. Wahrscheinlich hat er deshalb ein so friedliches und glückliches Gesicht. Er hat für seine Heimat gekämpft und sie letztendlich auch verteidigt.

Fotografien sind wie Brocken gefrorener Zeit. Jenseits des Zelluloids jedoch rennt die Zeit immer weiter und schwemmt in ihrem Lauf Daten, Namen und Gesichter vom Angesicht der Erde. Doch es gibt Dinge und Ereignisse, die man auf keinen Fall vergessen darf! Der Sieg im Jahr 1945 ist eines von diesen.

 

 Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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