7 Oktober 2014| Grossman Jekaterina Saweljewna

Der letzte Brief einer Mutter an ihren Sohn

Der Brief von Jekaterina Saweljewna Grossman, die Mutter des herausragenden Schriftstellers W. S. Grossman, Autor des Romans „Leben und Schicksal“, ist eines der besten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts. Der „Brief einer jüdischen Mutter an ihren Sohn“ wurde innerhalb dieses Romans veröffentlicht und dort adressiert an Victor Strum und geschrieben von dessen Mutter Anna Semjonona,. Dieser Brief ist zu einem wahren literarischen Kleinod avanciert und gehört zu den eindrucksvollsten Seiten des Romans „Leben und Schicksal“.

Jekaterina Saweljewna Grossman mit ihrem Sohn

„Vitja, ich bin mir sicher, dass mein Brief dich erreichen wird, obwohl ich auf der anderen Seite der Front bin, nämlich hinter dem Stacheldrahtzaun eines Jüdischen Ghettos. Deine Antwort werde ich nie erhalten, denn es wird mich dann nicht mehr geben. Ich möchte, dass du weißt, wie es mir an meinen letzten Tagen ergangen ist, denn mit diesem Gedanken fällt es mir leichter, aus dem Leben zu scheiden.

Die Menschen richtig zu begreifen ist sehr schwer, Vitja. Am siebten Juli sind die Deutschen in unsere Stadt eingedrungen. Im Stadtpark ertönten gerade über Radio die letzten Neuigkeiten, als ich aus der Poliklinik kam, wo ich Sprechstunde hatte. So bin ich stehen geblieben, um zuzuhören. Die Sprecherin verlas auf ukrainisch eine Meldung über irgendwelche Gefechte. Ich hörte in der Ferne, wie geschossen wurde. Dann kamen auf einmal Menschen durch den Park gelaufen. Ich ging in Richtung Haus und war völlig verwundert, wie ich denn überhaupt die Sirene des Luftalarms hatte verpassen können. Plötzlich sah ich einen Panzer, und irgendjemand schrie: „Die Deutschen sind zu uns durchgekommen!“ Ich erwiderte: „Machen Sie hier keine Panik!“ Gerade am Abend vorher war ich beim Sekretär des Stadtrates, um ihn um Ausreise zu bitten. Was meist du, wie der ärgerlich reagiert hat: „Ihre Bitte ist noch viel zu früh. Wir haben noch nicht einmal eine Liste mit allen Einwohnern zusammengestellt“ … Also kurz gesagt, die Deutschen waren nun in der Stadt. Die ganze Nacht hindurch liefen alle zu ihren Nachbaren. Am wenigsten besorgt waren die kleinen Kinder. Aber auch ich war eher ruhig. Ich hatte beschlossen, dass auch mit mir geschehen möge, was allen wiederfahren soll.

Zuerst aber war ich erschrocken, weil ich verstand, dass ich dich nie mehr wiedersehen werde. Dabei wollte ich dich so gern noch einmal anschauen, dein Stirn küssen und deine Augen. Doch dann dachte ich mir, was es doch für ein Glück ist, dass du in Sicherheit bist. Gegen Morgen schlief ich dann etwas ein und als ich aufwachte, fühlte ich eine furchtbare Einsamkeit in mir. Ich war in meinem Zimmer, lag in meinem Bett, doch fühlte mich irgendwo in der Fremde, allein. An diesem Morgen wurde ich dann daran erinnert, was ich die ganzen Jahre unter sowjetischer Herrschaft schon vergessen hatte, nämlich dass ich eine Jüdin bin. Die Deutschen kamen auf einem Lastwagen gefahren und schrien: „Juden kaputt!“ Etwas später erinnerten mich daran dann auch einige meiner Nachbarn. Die Frau des Hausmeisters stand unter meinem Fenster und meinte zu meiner Nachbarin: „Zum Glück hat es jetzt mit den Juden ein Ende“. Woher kam das plötzlich? Ihr Sohn hatte eine Jüdin geheiratet und sie selbst war zu ihrem Sohn zu Besuch gefahren und hatte mir von ihren Enkeln erzählt. Meine Nachbarin ist Witwe. Sie hat eine 6 jährige Tochter. Sie heißt Aljonuschka und hat wunderschöne blaue Augen. Ich hatte dir schon einmal von ihr geschrieben. Sie ist zu mir gekommen und hat gesagt: „Anna Semjonowna, ich bitte Sie, bis zum Abend ihre Sachen zusammenzusammeln. Ich ziehe in Ihr Zimmer“. „Gut, dann ziehe ich in Ihres“ – erwiderte ich. Sie antwortete: „Nein, Sie ziehen in die kleine Kammer hinter der Küche. Ich weigerte mich, denn dort gab es weder ein Fenster noch einen Ofen. Dann begab ich mich in die Poliklinik. Als ich zurückkam, fand ich die Tür zu meinem Zimmer aufgebrochen und meine Sachen hatten sie einfach so in die kleine Kammer geworfen. Meine Nachbarin sagte zu mir: „Ich habe mir ihr Sofa genommen, denn es passt sowieso nicht in Ihr neues Zimmerchen“. Es ist merkwürdig. Sie hat die Berufsschule beendet und ihr verstorbener Mann war so ein wunderbarer, stiller Mensch. Er hatte als Buchhalter in Ukoopspilka gearbeitet. „Sie schützt jetzt kein Gesetz mehr“ – sagte sie in einem solchen Ton! Die gesamte neue Lage kam ihr einfach sehr gelegen. Dabei hat dann ihre Tochter Aljonuschka den ganzen Abend bei mir gesessen und ich habe ihr Märchen erzählt. Sie wollte einfach nicht schlafen gehen. Ihre Mutter musste sie auf Händen hinaustragen.

Doch dann, Vitjenka, hat man unsere Poliklinik wieder neu eröffnet. Mir jedoch und noch einem Arzt, der Jude ist, wurde gekündigt. Ich bat, dass man mir für den Monat, den ich ja noch gearbeitet hatte, wenigstens den Lohn auszahlt. Doch der neue Leiter hat mir geantwortet: „Lassen Sie doch Stalin für Sie zahlen, dass sie unter sowjetischer Herrschaft hier gearbeitet haben. Schreiben Sie ihm doch nach Moskau“. Die Sanitäterin Marusja umarmte mich und schluchzte leise: „Oh, mein Gott, was wird nur aus Ihnen werden, was wird aus euch allen werden …“. Auch Doktor Tkatschow reichte mir die Hand. Ich weiß nicht, was schlimmer ist,  Schadenfreude oder Blicke voller Mitleid, mit denen man einer räudigen, krepierende Katze nachschaut. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das aller erleben muss.

Viele Menschen haben mich verblüfft, nicht nur finstere, bösartige oder ungebildete. So zum Beispiel ein alter Lehrer. Er ist schon in Pension und 75 Jahre alt. Er hat immer nach dir gefragt und mich gebeten, dir Grüße auszurichten. Er hat oft von dir gesprochen und gemeint, du seist unser ganzer Stolz. Doch in diesen verfluchten Tagen hat er mich, als wir uns begegnet sind, nicht einmal gegrüßt. Er hat sich einfach abgewandt. Und dann hat man mir erzählt, wie er in einer Versammlung in der Kommandantur gesagt haben soll: „Die Luft ist rein geworden, es riecht nicht mehr nach Knoblauch“. Wozu musste das sein – diese Worte sind doch unter seinem Niveau. Aber was hat es da auf dieser Versammlung nicht alles für Lästerungen gegeben gegen die Juden. Doch natürlich, Vitjenka, sind nicht alle zu dieser Versammlung gegangen. Viele haben sich geweigert. Und weißt du, so wie ich es noch aus der Zeit unter dem Zaren erinnere, stand der Antisemitismus für mich immer in Verbindung mit jenem säuerlich riechenden Patriotismus dieser Leute aus der „Vereinigung des Michael des Erzengels“. Doch nun musste ich mit ansehen, wie die Leute, die danach schreien, dass man Russland von den Juden befreien soll, wie erbärmliche Lakaien vor den Deutschen kriechen. Sie sind bereit, Russland für dreißig deutsche Silberlinge zu verkaufen. Finstere Leute aus den Vorstädten ziehen umher und plündern überall. Sie greifen sich Wohnungen, Decken und Kleidung. Solche Leute waren es wahrscheinlich auch, die bei den Aufständen, als die Cholera wütete, die Ärzte erschlagen haben. Es gibt aber auch richtig seelische Waschlappen. Sie sagen zu allem Blödsinn ja, nur damit man sie nicht verdächtigt, sie könnten mit den Machthabern nicht einer Meinung sein.

Ununterbrochen kommen Bekannte zu mir gelaufen und bringen irgendwelche Neuigkeiten. Alle scheinen sie den Verstand verloren zu haben. Aus ihren Augen starrt der Wahnsinn. Es ist ein merkwürdiger Ausdruck hier aufgekommen — „Dinge weiterverstecken“. Es scheint, dass alles beim Nachbarn besser aufgehoben ist. Dieses Weiterverstecken von Dingen erinnert mich eher an ein Spiel. Bald jedoch wurde verkündet, dass die Juden umgesiedelt werden. Es wurde erlaubt, 15 Kilogramm an persönlichen Sachen mitzunehmen. An den Wänden der Häuser hingen gelbliche Bekanntmachungen. „Allen Juden wird vorgeschlagen, in die Altstadt umzuziehen. Nicht später als bis zum 15. Juli 1941 um 6 Uhr abends. Alle, die sich nicht dort einfinden, werden erschossen“.

So habe also auch ich meine Sachen zusammengepackt, Vitjenka, und bin los. Ich habe ein Kopfkissen mitgenommen, ein wenig Wäsche, die kleine Tasse, die du mir mal geschenkt hattest, einen Löffel, ein Messer und zwei Teller. Braucht ein Mensch etwa mehr? Ich habe auch einige medizinische Geräte mitgenommen. Ich habe deine Briefe eingesteckt und die Fotos meiner verstorbenen Mutter und von Onkel David und das, auf dem man dich zusammen mit Papa fotografiert hat. Dann das kleine Bändchen von Puschkin, das Büchlein „Lettres de mon moulin“ und den kleinen Maupassant, wo „One vie“ abgedruckt ist, und ein kleines Wörterbuch. Weiterhin habe ich den Tschechow eingesteckt mit der „Langweiligen Geschichte“ und dem „Erzbischof“. Und so hatte ich dann bald einen ganzen Korb voll. Wie viele Briefe ich dir doch unter diesem Dach geschrieben habe, wie viele Nächte ich dort durchweint habe. Doch nun schreibe ich dir von meiner Einsamkeit. Ich habe Adé gesagt zu dem Haus und dem Garten, habe für einige Minuten unter dem Baum gesessen und  mich von den Nachbarn verabschiedet.

Einige Menschen sind schon merkwürdig gestrickt. Zwei der Nachbarinnen sind in meinem Beisein darüber in Streit geraten, wer denn meine Stühle nimmt und wer den kleinen Schreibtisch. Als ich ihnen dann zum Abschied die Hand geben wollte, haben sie beide angefangen zu weinen. Ich habe die Nachbarn Basanko gebeten, dir, wenn du nach dem Krieg nach Hause kommst, um zu erfahren, was mit mir geschehen ist, alles genau zu berichten. Sie haben es mir versprochen. Sehr gerührt war ich von Tobik, dem Hündchen vom Hof. Am letzten Abend war es so besonders zärtlich zu mir. Wenn du kommst, dann füttere es bitte für all seine Hingabe einer alten Jüdin gegenüber.

Als ich mich auf den Weg machte und dachte, wie ich denn nun den Korb bis in die Altstadt schleppen soll, kam ganz unerwartet mein Patient Schukin zu mir. Ich hatte immer gedacht, er sei ein mürrischer und seelenloser Mensch. Doch er trug meine Sachen für mich, gab mir 300 Rubel und sagte mir, dass er mir einmal in der Woche Brot an den Zaun bringen wird. Er arbeitet in der Druckerei. An die Front haben sie ihn nicht geschickt wegen seines Augenleidens. Vor dem Krieg habe ich ihn behandelt und wenn man mich gebeten hätte, Menschen aufzuzählen, die hilfsbereit sind und gutherzig, dann hätte ich zig Namen genannt, ihn jedoch unter Garantie nicht. Weißt du, Vitjenka, nachdem er auf mich zugekommen ist, habe ich mich wieder wie ein Mensch gefühlt. Also vermag es nicht nur ein streuender Hund,  menschlich zu mir sein. Er hat mir erzählt, dass in der Stadtdruckerei ein Befehl zum Druck bereit liegt, der es Juden verbietet, auf den Bürgersteigen zu gehen. Sie sollen auf ihrer Brust einen gelben Flicken tragen in Form eines sechsendigen Sternes. Sie haben weder das Recht, öffentliche Transportmittel zu nutzen, noch ins Badehaus zu gehen, weder einen Arzt aufzusuchen noch im Kino einen Film zu sehen. Es wird ihnen verboten, Butter, Eier, Milch, Früchte, Weißbrot, Fleisch und sämtliche Gemüse zu kaufen. Ausgenommen sind Kartoffeln. Einkäufe auf dem Markt sind nur nach sechs Uhr abends erlaubt (wenn die Bauern auf dem Markt abräumen). Die Altstadt wird von einem Stacheldrahtzaun umgeben werden. Es ist verboten, das umzäunte Gebiet zu verlassen, es sei denn im Konvoi mit anderen, um irgendwelche Zwangsarbeiten zu verrichten. Wenn in einem russischen Haus ein Jude aufgefunden wird, dann droht dem Hausherrn der Tod durch Erschießen. Das gleiche gilt für das Verstecken von Partisanen. Der Schwiegervater von Schukin, ein alter Bauer, hat mit eigenen Augen gesehen, wie man bei ihnen alle Juden aus der Gegend mit Bündeln und Koffern in den Wald gejagt hat. Dann waren von dort den ganzen Tag lang immer wieder Schüsse und wilde Schreie zu hören. Nicht ein Mensch ist von dort zurückgekehrt. Die Deutschen, die sich in der Wohnung seines Schwiegervaters einquartiert haben, sind an diesem Tag erst spät am Abend zurückgekommen. Sie waren alle betrunken und haben bis in den Morgen hinein weitergetrunken. Sie haben gesungen und im Beisein des Alten Broschen, Ringe und Armreifen unter sich aufgeteilt. Ich weiß nicht, ob dies nur eine zufällige Willkür war oder doch ein Vorbote dessen, welches Schicksal auch uns erwartet.

Wie traurig war ich auf dem Weg, mein Junge, in dieses mittelalterliche Ghetto. Ich bin durch die Stadt gegangen, in der ich 20 Jahre lang gearbeitet habe. Zuerst sind wir über die menschenleere Swetschnaja-Straße gegangen. Als wir dann auf die Nikolskaja-Straße kamen, habe ich hunderte Menschen gesehen, die alle auf dem Weg waren in dieses verfluchte Ghetto. Die Straße war ganz weiß von den Bündeln und Kopfkissen. Kranke wurden unter den Armen gestützt. Den Vater von Doktor Margulis, halb gelähmt nach seinem Schlaganfall, schleppten sie auf einer Decke. Ein junger Mann trug auf seinen Händen eine alte Frau und hinter ihnen gingen seine Frau und die Kinder, die schwer an ihren Bündeln zu tragen hatten. Der Direktor des Genusswarenladens, der dicke Gordon, röchelte schwer atmend und trug einen Mantel mit einem Pelzkragen. In seinem Gesicht jedoch stand ihm der Schweiß. Ein junger Mann hat mich verblüfft. Er kam ohne irgendwelche Sachen. Er ging mit gehobenem Kopf und hielt vor sich ein geöffnetes Buch. Er hatte ein überhebliches, aber ruhiges Gesicht. Doch wie viele Menschen waren da, die den Verstand zu verlieren schienen. Es war ein furchtbarer Anblick. Wir gingen auf dem Straßenpflaster und auf den Bürgersteigen standen die Leute und schauten zu. Einige Zeit ging ich neben den Margulis und hörte einige mitleidige Seufzer einer Frau. Über Gordon im Wintermantel haben sich alle lustig gemacht, obwohl — glaub es mir — er furchtbar und überhaupt nicht zum Lachen aussah. Ich habe viele bekannte Gesichter gesehen. Die einen haben mir leicht zugenickt, als ob sie sich verabschieden wollten, andere haben sich weggedreht. Mir scheint, dass es in dieser Menschenmenge keine Augen gab, die gleichgültig geblieben sind. Die einen waren neugierig, andere waren ohne jegliches Mitleid. Einige Male jedoch habe ich Augen voller Tränen gesehen.

Ich habe mich umgesehen. Da waren zwei Menschenhaufen: einerseits die Juden in Mänteln und Mützen und die Frauen in warmen Kopftüchern und dann der zweite Haufen auf dem Bürgersteig, sommerlich gekleidet: helle Blusen, Männer ohne Jackett, einige in bestickten ukrainischen Hemden. Mir schien es, dass die Sonne für die Juden, die auf der Straße gingen, bereits aufgehört hatte zu scheinen und dass sie mitten im Frost einer Dezembernacht unterwegs waren. Am Eingang zum Ghetto verabschiedete ich mich von meinem Begleiter. Er zeigte mir eine Stelle am Stacheldrahtzaun, wo wir uns treffen wollten. Weißt du, Vitjenka, was ich empfunden habe, als ich hinter diesem Stacheldraht verschwand? Ich dachte, dass ich entsetzliches Grauen empfinden werde. Doch kannst du dir vorstellen, dass ich mich in diesem Pferch für Vieh auf einmal besser gefühlt habe? Denke jetzt bitte nicht, dass es mir besser ging, weil ich ein Mensch bin, der zur Hingabe neigt. Nein. Nein. Um mich herum waren Menschen, die alle das gleiche Schicksal haben. Im Ghetto muss ich nicht mehr wie ein Pferd auf dem Pflaster gehen, niemand sieht mich voller Bosheit an und die Menschen, die ich kenne, schauen mir wieder in die Augen, niemand weicht einer Begegnung mit mir aus. In diesem Pferch tragen nun alle dieses Zeichen, das uns von den Faschisten aufgesetzt worden ist. Aber deshalb brennt es sich jetzt nicht mehr so sehr in die Seele ein. Hier fühlte ich mich nicht mehr wie rechtloses Vieh, sondern wie ein unglücklicher Mensch und deshalb wurde mir leichter ums Herz. Ich bezog gemeinsam mit meinem Kollegen, dem Allgemeinarzt Sperling, ein beschmiertes Haus aus zwei kleinen Zimmerchen. Die Sperlings haben zwei erwachsene Töchter und einen Sohn. Der Junge ist zwölf. Ich schaute lange in sein mageres Gesicht und in seine großen, traurigen Augen. Er heißt Jura. Schon zwei Mal habe ich ihn Vitja genannt. Und jedes Mal hat er mich berichtigt: „Ich bin Jura und nicht Vitja“. Wie unterschiedlich doch die Charaktere von Menschen sind!

Sperling ist mit seinen achtundfünfzig Jahren voller Energie. Er hat eine Matratze aufgetrieben, Kerosin und eine Fuhre Holz. In der Nacht hat man uns einen Sack Mehl und einen halben Sack Bohnen ins Haus getragen. Er freut sich über jeden seinen Erfolg wie ein kleiner Junge. Gestern hat er überall kleine Teppiche aufgehängt. Es ist alles halb so schlimm – sagt er immer wieder – wir werden alles überleben. Das Wichtigste ist, sich mit einem Vorrat an Lebensmittel und Holz auszustatten. Er hat mit gesagt, dass man im Ghetto eine Schule einrichten müsse, und mir sogar vorgeschlagen, Jura Unterricht in Französisch zu geben. Er würde mich für jede Stunde mit einem Teller Suppe bezahlen. Ich habe zugesagt. Die Frau von Sperling, die dicke Fanny Borisowna ist ständig am Jammern: „Alle sind umgekommen, auch für uns ist das das Ende“. Dabei passt sie höllisch auf, dass ihre älteste Tochter Ljuba, ein gutherziges und liebes Wesen, auch ja niemandem eine Handvoll Bohnen oder ein Stück Brot gibt. Ihr Jüngste, Alja — sie ist Mamas Liebling – ist eine wahre Ausgeburt der Hölle: machtsüchtig, misstrauisch und geizig. Sie schreit ihren Vater und ihre Schwester an. Vor dem Krieg ist sie aus Moskau zu Besuch gekommen und dann hier hängen geblieben.

Oh mein Gott, was für ein Elend rund herum! Wenn doch nur all jene, die sich immer über den Reichtum der Juden auslassen und meinen, dass die Juden stets alles in großen Mengen auf Vorrat im Hause hätten für den Schwarzen Tag, unsere Altstadt sehen könnten. Da ist er nämlich, der Schwarze Tag, und er könnte nicht schwärzer sein. Denn in der Altstadt hausen nicht nur die, die man hierher mit ihren 15 Kilogramm Hab und Gut zusammengetrieben hat. Hier haben immer Handwerker und Alte, Arbeiter und Sanitäter gelebt. In was für einer furchtbaren Enge haben sie gehaust und hausen sie noch heute. Was sie nicht alles essen! Wenn du dir nur einmal diese halbzerfallenen Hütten anschauen würdest, die halb in der Erde versunken sind. Vitjenka, ich sehe hier viele schlechte Menschen – Geizhälse, Feiglinge, Hinterlistige und sogar solche, die bereit sind, Verrat zu begehen. Hier lebt nun auch so ein wahrlich furchtbarer Mensch. Er heißt Ebstein und ist aus irgendeiner polnischen Stadt zu uns gestoßen. Er trägt eine Armbinde und geht mit den Deutschen zusammen auf Streife und Hausdurchsuchungen. Er nimmt an Verhören teil und säuft mit der ukrainischen Polizei. Später dann schicken die ihn durch die Häuser, damit er dort Wodka auftreibe, Geld und Lebensmittel. Ich habe ihn zwei Mal zu Gesicht bekommen. Er ist von großem Wuchs, sieht gut aus und trägt einen modischen, cremefarbenen Anzug, auf dem sogar der gelbe Stern, der auf seinem Jackett aufgenäht ist, aussieht wie eine gelbe Chrysantheme.

Doch ich möchte dir von etwas anderem erzählen. Ich habe mich nie wie eine Jüdin gefühlt. Von Kindheit an bin ich mit russischen Freundinnen aufgewachsen. Ich habe unter den Dichtern am meisten Puschkin und Nekrassow verehrt und das Theaterstück, bei dem ich zusammen mit allen Zuschauern im Saal, die zur Tagung der russischen Landärzte angereist waren, geweint habe, war „Onkel Wanja“ mit Stanislawskij. Doch einst, Vitjenka, als ich ein vierzehnjähriges Mädchen war, hat unsere gesamte Familie ihre Koffer gepackt, um nach Südamerika auszuwandern. Ich habe zu meinem Vater gesagt: „Ich gehe nirgendwohin, ich gehe nicht weg aus Russland. Lieber ertränke ich mich“. Und so bin ich geblieben. Und nun in diesen grausamen Tagen ist mein Herz ganz erfüllt von mütterlicher Zärtlichkeit für dieses jüdische Volk. Früher habe ich diese Liebe nicht gekannt. Sie erinnert mich an meine Liebe zu dir, mein lieber Junge. Ich machen Hausbesuche bei Kranken. In winzigen Zimmern drängen sich zig Leute: halbblinde Greise, Säuglinge und schwangere Frauen. Ich bin daran gewöhnt, in den Augen nach Krankheitssymptomen zu suchen – nach grünem und grauem Star. Jetzt kann ich den Menschen nicht mehr so einfach in die Augen sehen. Die Augen sind doch der Spiegel der Seele! Einer guten Seele, Vitjenka! Sie ist eine traurige und gutmütige. Sie schmunzelt über sich selbst und ist doch vom Schicksal verurteilt. Sie ist von Gewalt besiegt und steht doch gleichzeitig voller Triumph über dieser Gewalt. Es ist eine starke Seele, Vitja! Wenn du nur hören könntest, mit welch einer Aufmerksamkeit die Greise und alten Mütterchen mich über dich ausfragen, wie liebevoll mich die Menschen zu trösten versuchen, obwohl ich ihnen überhaupt nicht mein Leid geklagt habe, Menschen, deren Lage viel prekärer ist als meine. Manchmal scheint es mir, dass nicht ich die Krankenbesuche mache, sondern umgekehrt, dass die gutmütigen Menschen, einem Arzt gleich, meine Seele heilen. Es ist so anrührend, wie man mir für meine Behandlung ein Stück Brot reicht, eine Zwiebel oder eine Handvoll Bohnen. Glaub mir, Vitjenka, das sind keine Krankenzimmer in denen ich Visite mache. Wenn ein älterer Arbeiter mir die Hand drückt und mir in meine Tasche zwei-drei kleine Kartoffeln legt und meint: „Nun Doktor, ich bitte Sie sehr!“, dann kommen mir die Tränen. Darin liegt so etwas so reines, heimisches und gutmütiges. Ich kann es dir nicht mit Worten beschreiben.

Ich möchte dich nicht damit trösten, dass es mir leicht fiel in dieser Zeit. Wundere dich lieber, wie mein Herz all das ausgehalten hat und nicht bei all dem Leid zerbrochen ist. Doch quäle dich nicht mit dem Gedanken, dass ich gehungert haben könnte. Ich habe die ganze Zeit nicht einmal an Hunger gelitten. Und weiter noch – ich habe mich nie einsam gefühlt. Was kann ich dir von den Menschen erzählen, Vitja? Die Menschen bringen mich immer wieder zum Staunen, sowohl im guten, wie auch im schlechten Sinne. Alle sind doch so verschieden, obwohl alle das gleiche Schicksal erleiden. Du kannst dir sicher vorstellen, dass, wenn sich auch die meisten während eines Gewitters vor dem starken Regen irgendwo verstecken, es doch nicht heißt, dass alle Menschen gleich sind. Denn jeder versteckt sich vor dem Regen auf seine eigene Weise. Doktor Sperling ist sich sicher, dass die Verfolgung der Juden nur eine vorrübergehende Episode ist, solange der Krieg andauert. So wie er denken hier viele und ich sehe, je optimistischer die Menschen sind, umso kleinlicher und egoistischer reagieren sie. Wenn jemand während des Mittagessens vorbeikommt, dann verstecken Alja und Fanny Borisowna sofort das Essen. Die Sperlings sind mir gut gesonnen. Aber ich esse ja überhaupt wenig und bringe mehr Lebensmittel nach Hause, als ich selbst verzehren kann. Ich habe mich jedoch entschlossen, mir etwas Eigenes zu suchen, denn sie sind mir unangenehm. Ich werde schon eine kleine Ecke für mich finden.

Je mehr Traurigkeit in einem Menschen ist, je weniger Hoffnung er hat, zu überleben, umso offenherziger, gutmütiger und besser ist er. Die Armen, die Klempner, die einfachen Schneider, die dem Verderben preisgegeben sind, sind um ein vielfaches gutmütiger, offenherziger und auch klüger als jene, die sich auf listige Weise einen Vorrat an Lebensmittel zusammengetragen haben. Ganz junge Lehrerinnen, der alte Kauz, der Lehrer und Schachspieler Spielberg, stille Bibliothekarinnen und Ingenieur Reiwitsch, der noch viel unbeholfener ist als eine Kind, dabei aber davon träumt, die Bewohner des Ghettos mit selbstgefertigten Granaten auszurüsten – was sind sie nicht alle für wunderbare und unpraktische, liebevolle und traurige, doch gutherzige Menschen.

Ich kann hier sehen, dass Hoffnung fast nichts mit Vernunft zu tun hat. Sie macht eigentlich keinen Sinn. Ich denke, sie ist einfach da und aus Instinkt heraus geboren. Die Menschen, Vitja, leben, als ob noch viele Jahre vor ihnen liegen. Man kann nicht sagen, ob das nun dumm ist oder weise. Es ist einfach, wie es ist. Auch ich habe mich diesem Gesetz untergeordnet. Zu uns sind zwei Frauen aus dem Schtetl  gekommen und haben genau das Gleiche erzählt, was mir schon mein Freund berichtet hatte. Die Deutschen erschießen alle Juden im Umland. Sie haben kein Erbarmen mit Kindern und Alten. Die Deutschen und die Polizei kommen mit Autos angefahren, schnappen sich einige Dutzend Männer für Feldarbeiten. Diese müssen dann Gräben graben und danach – zwei-drei Tage später – treiben die Deutschen die jüdische Bevölkerung zu diesen Gräben hin und erschießen sie alle zusammen. Überall in den Schteteln um unsere Stadt herum wachsen diese jüdischen Grabhügel. Im Nachbarhaus wohnt ein Mädchen aus Polen. Sie hat erzählt, dass dort ständig gemordet wird. Alle Juden werden abgeschlachtet, bis auf den letzten. Nur in einigen Ghettos – in Warschau, Lodz und Radom – sind noch einige Juden am Leben. Wenn ich mir all das überlege, dann wird mir eines völlig klar, nämlich dass man uns hier nicht zusammengepfercht hat, um uns wie die Wisente im Urwald von Bialowieza zu schützen, sondern um uns abzuschlachten. Nach dem Plan der Deutschen sind auch wir bald an der Reihe, in einer Woche oder zwei. Doch stell dir vor, dass ich, obwohl mir all das klar ist, trotzdem weiterhin meine Hausbesuche bei den Kranken mache und zu ihnen sage: „Wenn Sie regelmäßig Ihre Augen mit dem Arzneimittel spülen, dann werden Sie in zwei-drei Wochen wieder gesund sein“. Ich schaue nach einem alten Mann, den man in einem halben Jahr oder einem Jahr von seinem grauen Star heilen könnte. Ich gebe Jura Unterricht in Französisch und bin verbittert wegen seiner fürchterlichen Aussprache. Und gleichzeitig dringen die Deutschen ins Ghetto ein und plündern, die Wachposten schießen auf Kinder und belustigen sich damit. Und es kommen immer neue Leute, die bestätigen, dass sich unser Schicksal an jedem beliebigen Tag ereignen kann. So läuft es hier, und doch leben die Menschen immer weiter. Vor kurzen hatten wir hier sogar eine Hochzeit.

Und immer wieder hört man viele Gerüchte. So berichtet ein Nachbar – wobei er vor Freude kaum atmen kann – dass unsere Truppen zum Angriff übergegangen und die Deutschen auf der Flucht sind. Dann wieder hört man, dass die Sowjetische Regierung zusammen mit Churchill den Deutschen ein Ultimatum gestellt habe, welches Hitler befiehlt, den Mord an Juden einzustellen. Dann wieder heißt es, dass man die Juden gegen deutsche Kriegsgefangene austauschen wird. Es scheint, nirgends so viel Hoffnung zu geben wie im Ghetto. Die Welt ist voller Ereignisse und alle diese Ereignisse haben nur einen Sinn, ihr Grund ist immer nur einer – die Rettung der Juden.  Was für ein Reichtum an Hoffnung! Die Quelle dieser Hoffnung ist einzig und allein der Instinkt zu leben, der sich ohne jegliche Logik der grausamen Notwendigkeit widersetzt, dass wir alle umkommen werden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und ich schaue um mich und kann es nicht glauben: Sollten wir etwa alle verurteilt sein und nur auf die Vollstreckung warten? Friseure, Schuster, Schneider, Ärzte und Ofenbauer – alle gehen ihrer Arbeit nach. Es ist sogar ein kleines Geburtshaus eröffnet worden, besser gesagt, eines was einem solchen ähnelt. Wäsche wird zum Trocknen aufgehängt, es wird gewaschen, man kocht Mittagessen, die Kinder gehen seit dem 1. September in die Schule und die Mütter fragen die Lehrer nach den Zensuren ihrer Kinder. Der alte Spielberg hat einige Bücher zum Binden gegeben. Alja Sperling macht morgens Gymnastik und vor dem Schlafengehen dreht sie sich die Haare ein. Sie streitet mit ihrem Vater und fordert von ihm Stoff für zwei neue Sommerkleider. Auch ich bin von morgens bis spät in die Nacht hinein beschäftigt und auf den Beinen. Ich mache Hausbesuche und gebe Unterricht, stopfe die Wäsche und wasche. Ich bereite mich für den Winter vor und nähe Watte in den Herbstmantel ein. Ich höre Erzählungen von Vergeltungsstrafen, die über die Juden hereingebrochen sind. Eine mir bekannte Frau, die Frau des Justitiars, hat man bis zur Ohnmacht niedergeschlagen, weil sie für ihr Kind ein Entenei gekauft hatte. Einem Jungen, dem Sohn des Apothekers Siroty, haben sie die Schulter durchschossen, als er versucht hatte, unter dem Stacheldrahtzaun hindurchzukriechen, um nach einem Ball zu greifen, der hindurchgerollt war. Und dann hört man wieder alle diese Gerüchte, von denen es immer wieder neue gibt. Hier aber nun kein Gerücht. Heute haben die Deutschen achtzig junge Männer zur Arbeit hinausgejagt, um angeblich Kartoffeln auszugraben. Einige von ihnen haben sich gefreut. So können sie wenigstens ein paar Kartoffeln für ihre Verwandten nach Hause bringen. Ich jedoch habe sofort begriffen, von welchen Kartoffeln hier die Rede ist.

Es ist Nacht im Ghetto. Es ist eine besondere Zeit, Vitja. Weißt du, mein Freund, dass ich dich immer dazu angehalten habe, mir die Wahrheit zu sagen. Ein Sohn sollte seiner Mutter immer die Wahrheit sagen. Aber auch eine Mutter sollte ihrem Sohn nichts verheimlichen. Denke nicht, Vitjenka, dass deine Mutter ein starker Mensch ist. Ich bin schwach. Ich fürchte mich vor Schmerzen und habe Angst, wenn ich mich beim Zahnarzt auf den Behandlungsstuhl setze. Als Kind hatte ich Angst vor dem Donner und fürchtete mich vor der Dunkelheit. Als alte Frau hatte ich Angst vor Krankheiten und Einsamkeit. Ich fürchtete, dass ich, wenn ich krank werde, nicht mehr arbeiten kann und dir so zur Last fallen werde und dass du es mich spüren lässt. Ich hatte Angst vor dem Krieg. Jetzt in den Nächten, Vitja, ergreift mich ein Grauen, von dem das Herz wie zu Eis erstarrt. Auf mich wartet der Tod. Ich möchte dich so sehr bitten, dass du kommst und mir hilfst. Einst als Kind warst du es, der zu mir gelaufen kam und bei mir Schutz gesucht hat. Und nun, in diesen Minuten der Schwäche, möchte ich meinen Kopf zwischen deinen Knien verstecken und damit du, klug und stark wie du bist, deine Hand auf ihn legst und mich beschützt. Ich bin nicht nur stark im Geiste, Vitja, ich bin auch schwach. Ich denke oft daran, mir das Leben zu nehmen, doch ich weiß nicht, ob es Schwäche ist oder Stärke oder aber sinnloses Hoffen, was mich zurückhält. Es reicht jetzt. Mir fallen die Augen zu und ich beginne zu träumen. Ich sehe oft meine verstorbene Mutter vor mir und unterhalte mich mit ihr. Heute Nacht habe ich Saschenka Schaposchnikowa gesehen, wie wir zusammen in Paris gewohnt haben. Dich habe noch nie im Traum gesehen, obwohl ich ohne Unterlass an dich denke, selbst in den Minuten, in denen ich sehr aufgeregt bin. Ich wache auf und sehe plötzlich wieder diese Decke und mir wird dann wieder klar, dass die Deutschen unser Land besetzt haben und dass ich eine von den Aussätzigen bin und dann scheint es mir, dass ich nicht aufgewacht bin, sondern ganz im Gegenteil einen Albtraum träume. Doch dann, nach einigen Minuten, höre ich, wie Alja und Ljuba miteinander streiten, wer heute an der Reihe ist, zum Brunnen zu gehen. Ich lausche den Gesprächen darüber, wie die Deutschen in der Nachbarstraße einem alten Mann den Kopf eingeschlagen haben. Zu mir ist eine Bekannte gekommen, eine Studentin der pädagogischen Fachschule. Sie ruft mich zu einem Kranken. Es stellte sich heraus, dass sie dort einen an der Schulter verletzten Leutnant versteckt halten, der ein verbranntes Auge hat. Ein junger geschundener Mann, mit einem typischen Akzent von der Wolga, wo sie das O so betonen. Er ist nachts durch den Stacheldrahtzaun gekrochen und hat im Ghetto Unterschlupf gesucht. Sein Auge war, wie sich herausstellte, nicht stark verletzt worden. Es ist mir gelungen, den Eiter zu stoppen. Er hat viel von den Gefechten erzählt und von der Flucht unserer Truppen. Das hat mich alles sehr traurig werden lassen. Er möchte etwas ausruhen und sich dann wieder zurück über die Frontlinie schlagen. Einige von unseren Jungs hier werden mit ihm gehen. Einer war mein Schüler. Ach Vitjenka, wenn ich doch nur mit ihnen gehen könnte! Ich war so voller Freude, dass ich diesem jungen Kerl helfen konnte. Es schien mir, dass nun auch ich etwas tun kann in diesem Krieg gegen den Faschismus. Die Leute brachten ihm Kartoffeln, Brot und Bohnen und irgendeine Oma hat ihm Wollsocken gestrickt.

Der Tag heute war voller Dramatik. Am Tage vorher hat sich Alja über ihre russische Bekannte den Pass eines jungen russischen Mädchens, das im Krankenhaus verstorben ist, besorgen lassen. In der Nacht hat sie dann das Ghetto verlassen. Heute haben wir von einem bekannten Bauern erfahren, der am Zaun des Ghettos entlanggefahren ist, dass die Juden, die man geholt hatte, um Kartoffeln auszugraben, in etwa 4 Werst Entfernung von der Stadt, in der Nähe des Flugplatzes, an der Straße nach Romanowka tiefe Gräben graben. Merke dir, Vitja, diese Beschreibung. Dort wirst du ein Massengrab finden, in dem auch deine Mutter liegt. Sogar Sperling hat nun endlich alles begriffen. Er ist den ganzen Tag ganz blass. Seine Lippen zittern und er fragt mich immer wieder, ob es nicht doch noch Hoffnung gibt, dass man Spezialisten wie uns am Leben lässt. Es wird in der Tat berichtet, dass man in einigen Schteteln die besten Schneider, Schuster und Ärzte vorher ausgesondert hat. Und trotzdem hat Sperling dann am Abend einen alten Ofensetzer gerufen, der ihm in der Wand ein Versteck für Mehl und Salz eingerichtet hat. Am Abend habe ich mit Jura in den „Lettres de mon moulin“ gelesen. Weißt du noch, wie du mir laut meine Lieblingserzählung „Les vieux“ vorgelesen hast und wie wir uns dann beide angeschaut haben und in Lachen ausgebrochen sind und wie uns beiden die Tränen in den Augen standen? Danach habe ich Jura Hausaufgaben für übermorgen aufgegeben. So muss es eben sein. Doch was für ein Gefühl von Schmerz hat mich da ergriffen, als ich das kleine, traurige Gesicht meines Schülers ansah und seine Finger, die dabei waren, die Nummern der Abschnitte aus der Grammatik in sein Heft zu schreiben. Wie viele solche Kinder gibt es hier: wunderschöne Augen, dunkles, lockiges Haar. Unter ihnen sind mit aller Wahrscheinlichkeit einige zukünftige Wissenschaftler, Physiker, Professoren der Medizin, Musikanten und vielleicht auch Dichter. Ich sehe sie, wie sie morgens in die Schule laufen, nicht so wie es Kinder gewöhnlich tun, sondern voller Ernst, mit weit geöffneten, tragisch erschrockenen Augen. Doch dann beginnen sie manchmal zu trödeln, raufen miteinander und lachen. Doch davon wird es einem nicht fröhlicher zumute. Vielmehr erfasst einen das Grauen. Man sagt immer, dass die Kinder unsere Zukunft sind. Doch was soll man von diesen Kindern sagen? Ihnen ist es nicht vergönnt, Musikant, Schuster oder Näherin zu werden. Ich habe mir heute Nacht sehr klar vorgestellt, wie diese ganze lärmende Welt von bärtigen, geschäftigen Vätern, den nörgelnden Großmüttern, die dabei so köstlich Honigkuchen backen und Gänsehälse zubereiten können, wie diese ganze Welt der Heiratsbräuche, der Sprichwörter und Sabbatfeiern für immer in der Erde verschwinden soll. Nach dem Krieg wird das Leben wieder in Fahrt kommen, doch uns wird es nicht mehr geben. Wir werden verschwunden sein, wie es auch keine Azteken mehr gibt.

Der Bauer, der die Nachricht von der Vorbereitung der Gräber gebracht hat, erzählt, dass seine Frau die ganze Nacht geweint habe. Sie habe gezetert: „Sie nähen für uns, fertigen Stiefel und gerben Leder. Sie reparieren unsere Uhren und verkaufen uns Arznei in ihren Apotheken. … Was soll denn werden, wenn man sie alle umbringt?“ Und klar konnte ich vor mir sehen, wie jemand, wenn er an den Ruinen hier vorbeigeht, sagen wird: „Weißt du noch? Hier haben einst die Juden gewohnt. Der Ofenmeister Boruch. Am Samstagabend hat seine Alte auf der Bank gesessen und neben ihr haben Kinder gespielt“. Und der andere wird entgegnen: „Und hier unter diesem alten Birnenbaum mit den sauren Früchten hat gewöhnlich die alte Frau Doktor gesessen. Ich weiß nicht mehr, wie sie heißt. Sie hat mich einmal wegen meiner Augen behandelt. Nach der Arbeit hat sie immer ihren Korbstuhl heraus auf den Hof getragen und hat dann dagesessen mit einem Buch in der Hand“. So wird es sein, Vitja. Als ob ein eisiger Windhauch allen übers Gesicht gefahren ist. Alle haben es gefühlt, dass die Zeit gekommen ist.

Vitja, ich möchte dir sagen … nein, nicht so, nicht so … Vitjenka, ich beende nun meinen Brief und bringe ihn an den Zaun des Ghettos und übergebe ihn meinem Freund. Diesen Brief zu beenden, fällt mir nicht leicht, denn er ist mein letztes Gespräch mit dir. Wenn ich den Brief übergeben haben werde, dann gehe ich für immer von dir und du wirst schon nicht mehr erfahren, wie es mir in meinen letzten Stunden ergangen ist. Dies ist unser letzter Abschied. Was sage ich dir also zum Lebewohl vor unserer Trennung auf ewig? In diesen Tagen, wie auch das ganze Leben hindurch, warst du stets meine Freude. In den Nächten habe ich an dich gedacht, an deine Kindersachen und deine ersten Bücher, ich habe mich an deinen ersten Brief erinnert und an deinen ersten Schultag. Alles, ja alles, habe ich noch in Erinnerung, vom ersten Tag an deines Lebens bis zur letzten Nachricht von dir, dem Telegramm, das ich am 30. Juni erhalten habe. Ich schließe meine Augen und mir scheint, du hast mich vor all dem Grauen, dass mich erwartet beschützt, mein Freund. Und wenn ich mir klar mache, was um mich herum geschieht, dann werde ich froh, dass du nicht an meiner Seite bist. Mögest du von diesem grausamen Schicksal verschont bleiben.

Vitja, ich war immer allein. In schlaflosen Nächten habe ich vor Sehnsucht geweint. Niemand hat je davon erfahren. Mein einziger Trost war der Gedanke daran, dass ich dir einmal von meinem Leben berichten werde. Ich werde dir erzählen, warum wir, dein Vater und ich, uns getrennt haben und warum ich so viele Jahre allein gelebt habe. Ich habe oft daran gedacht, wie es Vitja wundern wird, wenn er erfährt, dass seine Mutter Fehler gemacht hat, dass sie den Verstand verloren hat vor Eifersucht, dass andere auf sie eifersüchtig waren und genau so eine war, wie alle jungen Mädchen. Doch es ist mein Schicksal, einsam aus dem Leben zu gehen, ohne dir alles erzählt zu haben. Manchmal schien es mir, dass ich lieber nicht so weit entfernt von dir hätte leben sollen, weil ich dich zu sehr geliebt habe. Ich habe gedacht, dass die Liebe mir das Recht gibt, an deiner Seite zu leben, wenn ich alt bin. Aber dann schien es mir wieder, dass ich nicht mit dir zusammen leben sollte, gerade weil ich dich zu sehr geliebt habe.

Nun enfin … Sei immer glücklich mit denen, die du liebst, mit den Menschen, die um dich herum sind und die dir näher geworden sind als deine Mutter. Verzeih mir. Auf der Straße hört man das Weinen einer Frau. Polizisten brüllen. Ich jedoch schaue auf diese geschriebenen Zeilen und mir scheint, dass ich beschützt bin von dieser grausamen Welt, die so voller Leid ist. Wie soll ich diesen Brief nun beenden? Woher soll ich die Kraft dafür nehmen? Gibt es denn menschliche Worte, die ausdrücken können, wie sehr ich dich liebe?

Ich küsse dich, deine Augen, deine Stirn und deine Haare. Denke immer daran, dass die Liebe deiner Mutter, sei es an Tagen voller Glück oder an Tagen des Leids, immer bei dir ist. Niemand hat die Macht, sie zu töten.

Vitjenka, … Nun also die letzte Zeile des letzten Briefes von deiner Mama an dich. Lebe, mein Junge, lebe, lebe ewig  …

Mama“

Ekaterina Saweljewna Witis wurde am 15. September 1941 im Zuge einer der faschistischen Operationen zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung gemeinsam mit den anderen Juden von Romanowka erschossen. Schwer erkrankt an Knochentuberkulose ging sie auf Krücken gestützt zum Graben für das Massengrab. Bis zum Ende seines Lebens hat der Schriftsteller Vasilij Grossman seiner toten Mutter Briefe geschrieben.

Der Roman von Vasilij Grossman „Leben und Schicksal“ wird von vielen als „Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet. Einerseits wegen des direkten Einflusses von Tolstoi auf Grossman, aber auch wegen seiner Bedeutung. Die zentrale Idee des Werkes ist es zu zeigen, dass Menschlichkeit unter den Bedingungen einer totalitären Gesellschaft gegen den Druck, den eine solche Gesellschaft ausübt, das Kostbarste ist, was es gibt.

Vasilij Semjonowitsch Grossman (sein richtiger Name ist Joseph Solomonowitsch Grossman (1905-1964)) war ein russisch-sowjetischer Schriftsteller, Journalist und Frontberichterstatter.    

 

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

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