25 April 2013| Fradkin Alexander Efimowitsch

Der Krieg wurde also wahr

Alexander Efimowitsch Fradkin im Jahre 1950.

Ich wurde 1931 in Weißrussland, in einer kleinen Stadt mit dem Namen Staryj Bychow geboren. Sie liegt am rechten Ufer des Dnjeprs. Es war die Heimat meines Vaters. Er war dort aufgewachsen, auch schon seine Vorfahren in mehreren Generationen.

Mein Großvater väterlicherseits war Schuster. Er war ein Meister seines Fachs und arbeitete sehr viel. Von früh morgens bis spät in der Nacht war er ständig in seiner winzigen Werkstatt mit seinem Handwerk beschäftigt und hatte dabei stets einen „selbstgedrehten Glimmstängel“ zwischen den Lippen. Nur am Samstag machte er frei. An diesem Tag betete er. Dann liefen alle zu Hause auf Zehnspitzen durch die Zimmer und flüsterten, um ihn — um Gottes willen! — nicht dabei zu stören. Als ältester Sohn von neun Kindern half mein Vater, Efim Lwowitsch,bereits seit seiner frühsten Kindheit meinem Großvater bei seinem Handwerk. Später dann gab er Nachhilfeunterricht, denn er war sehr gut in der Schule. Nachdem man ihn zur Armee — in die Rote Armee! -einberufen und mein Vater spezielle Kurse für Kommandeure durchlaufen hatte, blieb er sein ganzes Leben dann auf immer mit der Armee verbunden. In den Garnisonen lebten damalsnur Soldaten, die aus der Gegend kamen, wo sich die Garnison befand. Dies machte es einfacher, die Armee mit Lebensmittel zu versorgen, denn die Bauern belieferten in diesem Falle gern die Garnisonen mit Lebensmitteln, denn sie wussten ja, dass mit diesen die Verpflegung ihrer eigenen Söhnen, die jetzt Soldaten der Roten Armeewaren, sicher gestellt wurde. Es war auch viel einfacher, was die Wahrung der Disziplin betrifft, da sich die meisten Soldaten von klein auf an untereinander kannten. Im Notfall  konnten auch die Eltern selbst eingreifen, wenn einer von ihrenSöhnen auf die schiefe Bahn geraten war, um ihn dann wieder mit ihren eigenen Methoden auf den rechten Weg zurückzuführen. Aus diesem Grund leistete mein Vater in den ersten Jahren seinen Militärdienst in Bychow ab.

Meine Mutter, Asja Abramowna, kam aus Mogilev.Sie stammte aus der Familie eines Gerbers. Auch ihr Vater hatte seine eigene Werkstatt, in der er arbeitete. Die Familie war nicht sehr reich, aber doch ausreichend begütert. Sie bewohnten ein Haus, das aus Ziegeln gebaut war, und meine Mutter und ihre ältere Schwester hatten beide das Gymnasium besucht. Meiner Mutter erinnerte sich noch, dass während des Ersten Weltkrieges, als sich in Mogilev das Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Armee befand, Zar Nikolaus II und sein Sohn Alexej einmal dem Gymnasium einen Besuch abgestattet hatten. Meine Mutter hatte damals zusammen mit anderen Mädchen die hohen Gäste begrüßt. Nach der Revolution verloren sie ihren gesamten bescheidenen Besitz. Das Haus und die Werkstatt wurden beschlagnahmt. Bald darauf starb dann meine Großmutter und meine Mutter blieb mit ihren zwei kleineren Geschwistern, einem Bruder und einer Schwester, an der Hand zurück. So hatte es meine Mutter auch früh gelernt, hart zu arbeiten und während der schweren Jahre, als es in Bychow fast unmöglich war, Lebensmittel aufzutreiben, hatten wir Hühner, Gänse und mästeten sogar ein kleines Schwein.

Efim Lwowitsch, Alexander und Asja Abramowna im Jahre 1937.

In unserem Haus wurde immer viel gelesen. Die Liebe meines Vaters zu Büchern ist auf mich übergegangen. Ich weiß nicht mehr, wie und in welchem Alter ich angefangen habe zu lesen. Ich erinnere mich aber noch, dass ich mit fünf Jahren nicht nur Kinderbücher las, sondern auch schon Bücher für Erwachsene. Niemand kontrollierte, was ich las. Meine Kindheit verbrachte ich zumeist unter Soldaten und Offizieren. Dies prägte natürlich meinen Charakter, meine Art, die Welt zu sehen, und meine Offenheit anderen Kulturen gegenüber.

Die Lage im Land in den Jahren vor dem Krieg war nicht ganz einfach. Zuallererst möchte ich sagen, dass man überall und in Jedem einen potentiellen Spitzel sah. Wir Kinder hatten schon, bevor wir in die Schule kamen, begriffen, dass es überall um uns herum Spione und sogenannte Feinde des Volkes gab. 1937 gedachte man des 100. Todestages Alexander Puschkinsmit einem breiten Spektrum an Feierlichkeiten. Unter anderem wurde eine ganze Reihe von Schulheften herausgegeben, deren Umschlagseite mit Motiven aus den Märchen Puschkins geschmückt waren. Wir suchten und es schien uns, dass selbst in diesen Zeichnungen irgendwelche Symbole des Feindes, irgendwelche Hakenkreuze oder noch so etwas, zu erkennen waren. In diesen Jahren waren Streichholzschachteln, auf die auf schwarzem Grund in hell gelber Farbe UdSSR gedruckt war, sehr populär. Im Buchstaben U, wenn man ihn umdrehte, erkannten wir so etwas einen Heiligenschein, mit dem auf Ikonen gewöhnlich Heilige dargestellt werden. Einmal spendierten uns einigen von den älteren Jungs Bonbons, die die Form eines kleinen Kissens hatten und mit irgendetwas gefüllt waren. Um uns einen Streich zu spielen, hatten diese Jungs jedoch in einige Bonbons Tinte hineingespritzt. Als wir dann etwas später unsere total blau beschmierten Gesichter sahen, bestand für uns kein Zweifel, dass hier der Feind seine Hände mit im Spiel gehabt hatte. Viele, wenn nicht sogar die meisten damals populären Filme und Bücher handelten von Spionage oder Sabotage. Ein zweites Thema, das damals aktuell in Kinofilmen behandelt wurde, war der zukünftige Krieg. So zum Beispiel im Film „Und morgen war Krieg“, in dem der Angriff des Feindes auf unser Land am Ende mit seiner Zerschlagung auf seinem eigenen Territorium endete. Ständig bekamen wir zu hören: „Wir brauchen kein fremdes Land, doch von unserem eigenen werden wir keinen Meter hergeben“. Der zukünftige Feind war allen bekannt – das faschistische Deutschland. Über den zukünftigen Krieg wurde nicht nur gesprochen, man bereitete sich auch auf ihn vor. Die Angehörigen der Armee genossen als Elite der Gesellschaft hohes Ansehen. Der Dienst bei den Streitkräften galt in der Tat als ehrenhaft. Der Komsomol rief seine Mitglieder zur Luftwaffe und zur Marine. Es wurden beeindruckende Manöver abgehalten, bei denen damals erstmals in der Welt gewaltige Anlandungen aus der Luft und intensive Panzerattacken demonstriert wurden. Ich erinnere mich noch an solchegewaltige Panzer mit mehreren Luken und an die kleineren, wendigen Schützenpanzer, die 1936 während der Manöver über die Straßen von Bychow rollten.

In der Tat war die UdSSR bereits in Kriege verwickelt. Sogar wir Kinder wussten davon. Auch wenn es sich nicht gehörte, laut darüber zu sprechen, dass der Vater des einen in China war und der eines anderen in Spanien kämpfte. Es kam zu ernsthaften Gefechten mit Japan am See von Chasan und in der Mongolei am Fluss Chlachin-Gol. 1939 reichte die UdSSR — wie man es damals ausdrückte — ihre brüderliche Hand den Völkern in der westlichen Ukraine und im Westen Weißrusslands. Bald darauf begann der Krieg mit Finnland. Zu diesem Zeitpunkt wurde nun auch zum ersten Mal sichtbar, dass nicht alles in bester Ordnung war. Das löste natürlich Beunruhigung bei allen aus. Mein Vater, der bis dahin in Nowosybkow im Gebiet von Orjol seinen Dienst geleistet hatte, wurde in das Kriegsgebiet abkommandiert. Meine Mutter und ich blieben allein zurück. Bald wurden die Lebensmittel knapp. Mit dem Wintereinbruch – dieser war in diesem Jahr sehr streng – kam es zu Engpässen bei der Versorgung mit Heizmaterial. Wenn uns nicht Kameraden meines Vaters geholfen hätten, weiß ich nicht, wie wir überlebt hätten.

Nach dem Finnlandfeldzug wurde das Leben dann plötzlich wieder besser. Mein Vater wurde nach Gomel versetzt und sogar befördert. Er war nun Major. Wir bekamen dort eine schöne Wohnung, ich ein Fahrrad und mein Vater einen Fotoapparat aus der Kamerafabrik Dsershinskij, ja, wir hatten sogar ein Radio. In den Geschäften gab es nun wieder alles in Hülle und Fülle. Nicht nur verschiedenste Lebensmittel, sondern auch Kleidung und andere Waren, die jetztunter anderem auch aus den früheren baltischen Ländern kamen, die nun zu Sowjetrepubliken geworden waren. Nachdem 1939 zwischen der UdSSR und Deutschland ein gegenseitiger Nichtangriffspakt geschlossen wurde, änderte sich der Ton in der Berichterstattung über Deutschland. Er wurde freundlicher. Trotzdem ließ sich davon niemand, wie es mir scheint, täuschen. Die Vorbereitung auf einen zukünftigen Krieg ging weiter. In Gomel wohnten wir im Hause der Kommandeure. Mit den Bewohnern dieses Hauses wurden regelmäßig Übungen zur zivilen Selbstverteidigung durchgeführt. An alle waren Gasmasken ausgegeben und ein Luftschutzkeller eingerichtet worden. Ich erinnere mich noch, wie mir einmal meine Mutter völlig aufgeregt von einem Gespräch mit einer Frau aus dem Westen Weißrusslands erzählte. Diese war nämlich begeistert von dem Leben bei uns in der Sowjetunion. Doch diese Frau erinnerte sich auch, dass auch in Polen am Vorabend des Krieges eine ähnliche Situation geherrscht hatte. Ohne dass ich vorgreifen will, möchte ich sagen, dass die Division, in der mein Vater diente, eine Woche vor Ausbruch des Krieges an die westliche Grenze verlegt worden war.

Es muss noch einiges über die Repressionen, die in der Armee zur Tagesordnung gehörten, gesagt werden. Ich erinnere mich, dass mein Vater, als wir noch in Nowosybow wohnten, eines Tages völlig niedergeschlagen nach Hause kam und meiner Mutter erzählte, dass man den Kommandeur seines Heeres verhaftet habe. Er war bei seinen Unterbegebenen sehr beliebt, war Träger mehrerer Orden und hatte bereits im Bürgerkrieg mitgekämpft. Danach war der Kommandeur der Division an der Reihe. Später erzählte mein Vater, dass die Kommandeure, wenn sie sich morgens im Kommandostab versammelten und bemerkten, dass der eine oder andere fehlte, sich nur schweigend einander ansahen, denn alle hattenes auch ohne Worte begriffen. Es war nicht üblich Fragen zu stellen. In den drei Jahren vor Ausbruch des Krieges war die gesamte Elite der Kommandeure der Roten Armee vernichtet worden. Dies waren solche talentierten und gebildeten Offiziere wie Tuchatschewskij, Jegorow, Blücher, Jakir, Uborewitsch und viele, viele andere. An ihre Stelle traten nun an die Spitze der Armee solche ungebildeten Ignoranten wie Woroschlilow, Budjonnyj, Timoschenko, Kulik und andere. Den Repressionen fiel nicht nur die oberste Schicht der Heeresleitung, sondern auch die mittlere Kommandoebene zum Opfer. Die Kommandoaufgaben übertrug man an Offiziere, die dazu überhaupt nicht ausgebildet und befähigt waren.

Alexander Fradkin im Jahre 1940.

So kam dann auch eines Tages mein Vater an die Reihe. Zu Beginn des Jahres 1941 verschwand er plötzlich. Obwohl meine Mutter sich bemühte, mich zu beruhigen, begriff ich doch durch schiefe Blicke und Andeutungen unserer Nachbarn, dass man meinen Vater verhaftet hatte. Sofort nachdem das Schuljahr beendet war, schickte mich meine Mutter nach Bychow zu meinen Großvater. Sie selbst blieb in Gomel zurück.

In Bychow kam im Sommer in der Regel die ganze große Familie meines Großvaters zusammen. In diesem Jahr sollte es leider nicht so sein. Und alle diejenigen der Familie, denen es in diesem Jahr nicht vergönnt war, die Eltern zu besuchen, sollten diese auch nie wiedersehen. Nicht einer der vier Söhne war gekommen. Der älteste von ihnen – Efim, mein Vater — war in Haft. Einige Monate nach Beginn des Krieges wurde er frei gelassen und in seinem Dienstgrad rehabilitiert. Er betrat das Kriegsgeschehenerst, als der Feind schon vor Moskau stand. Er war bei der Verteidigung Stalingrads dabei, kämpfte mit am Kursker Bogen, befreite Prag und nahm Wien ein. Er beendete den Krieg als Gardeoberstin der Mandschurei.

Der zweite Sohn, David, war Hauptmann der Artillerie. Er war ein Spaßvogel und ein richtig schöner Mann. Er war hoch von Wuchs und hatte breite Schultern, wie ein Recke. Er diente an der westlichen Grenze. Nach der Erzählung eines Kammeraden wurde er gleich in den ersten Tagen des Krieges im Gefecht schwer verletzt und hat sich daraufhin selbst erschossen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Der dritte Sohn, Isaak, war Anfang der Dreißiger Jahre als Freiwilliger zum Bau der Baikal-Amur-Magistrale nach Sibirien gegangen und hatte sich dort niedergelassen. Er hatte sich freiwillig an die Front gemeldet, war Kommandeur auf einem Panzer und fiel 1943 bei Smolensk.

Der jüngste Sohn, Jona, beendete im Frühjahr 1941 die Fachschule der Luftstreitkräfte und wurde daraufhin hinter den Baikalsee geschickt, wo er Parteisekretär einer Fliegerstaffel war und im Krieg gegen Japan kämpfte. Etwas später wollte auch die älteste der Töchter, Raissa, ihre Eltern besuchen. Sie lebte zusammen mit ihrem Mann und zwei Kindern in Mosyr. Zu Beginn des Krieges wurde ihr Mann, der ein Parteifunktionär war, zur Armee einberufen. Sie selber hat es nicht mehr geschafft evakuiert zu werden. Als sie versuchte, die Stadt zu verlassen, wurde sie von der Polizei aufgehalten. Nachdem man ihre jüdische Identität festgestellt und dazu noch herausgefunden hatte, dass sie die Frau eines Kommissars war, wurde sie zusammen mit ihren Kindern Fried — 11 Jahre und Lisotschka — 6 Jahre auf bestialische Weise ermordet.

In Bychow waren deshalb in diesem Sommer nur vier meiner Tanten. Eine von ihnen hatte in Bychow selbst geheiratet und lebte deshalb mit einem kleinen Kind auf dem Arm dort. Ihr Mann war seit seiner Geburt behindert. Eine andere studierte an der Pädagogischen Fachschule in Mogilev und kam für die Ferien nach Hause. Während des Krieges meldete sie sich, nachdem ihr Verlobter gefallen war, freiwillig zum Kriegsdienst. Sie absolvierte Kurse als Granatwerfer und kämpfte bei Leningrad. Sie blieb dann auch und bis ans Ende ihres Lebens unverheiratet und ihrem Verlobten treu. Die beiden jüngsten Töchter waren damals noch Schülerinnen. Sie besuchten die oberen Klassen.

Am 17. Juni 1941 wurde ich 10 Jahre alt. 5 Tage später begann der Krieg. Am Morgen des 22. Juni spielte ich mit meinen Freunden im Nachbarhof, als plötzlich irgendein Junge angerannt kam und schrie: „Krieg! Es ist Krieg!“ Wir schrien ihn an: „Du hast wohl den Verstand verloren! Wie kannst du so etwas sagen?“ Doch es stellte sich dann als wahr heraus. Und sofort am nächsten Tag erschienen am Himmel über Bychow deutsche Flugzeuge. Zunächst warfen sie keine Bomben über der Stadt ab, und es war interessant ihnen beim Fliegen zuzusehen. Wir erkannten sie auch in großer Höhe an ihrem charakteristischen Heulen. Von unseren Luftstreitkräften war überhaupt nichts zu sehen. Es waren auch keine Fliegerabwehrkanonen zu hören. Deshalb konnten sich die deutschen Piloten völlig frei fühlen. Ich wurde Zeuge, wie eine ältere Frau mit einem Sack auf den Schultern (scheinbar war sie gerade auf dem Weg zum Markt) die Straße entlang lief und sich von Seite zu Seite flüchtete, denn jemand aus einem deutschen Kampfbomber zielte im Tiefflug mit einem Maschinengewehr nach ihr und die Kugeln schlugen mit vielen Funken auf das Pflaster der Straße. Das Flugzeug flog so tief, dass man den höhnisch lachenden Piloten sehen konnte. In Richtung Westen zogen nun auch Truppen von Rotarmisten, die alle Gewehre trugen. Panzer oder zu mindestens Geschütze habe ich keine gesehen, wenn man mal von Lastkraftwagen mit Vierfach-Maschinengewehren vom Typ „Maxim“ absieht. Doch der Kampfgeist der braungebrannten jungen Kerle war damals noch ungebrochen. Ich weiß noch, wie sie uns Bengels zuriefen, dass sie es den Deutschen an der Beresina zeigen werden, so dass diese dann schon nicht mehr weiter kommen werden. Bald jedoch zogen in Richtung Osten immer mehr Flüchtlinge. Unter ihnen waren auch viele Soldaten, jedoch ohne Waffen, dafür aber mit blutgetränkten Verbänden und Augen, die von dem, was sie gesehen hatten, den Verstand verloren zu haben schienen. Die Front kam unaufhaltsam immer näher. Man konnte schon das Donnern der Geschütze hören. Es wurde bald klar, dass wir in Bychow nicht bleiben konnten. Die energischste und aktivste von uns allen war Tante Maria (jene mit dem kleinen Kind auf dem Arm). Sie übernahm in dieser kritischen Situation praktisch die Führungsrolle in unserer Familie. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hatte, ein Pferd und einen Wagen zu besorgen. Am Abend sammelten wir unser nötigstes Hab und Gut zusammen und packten es auf den Pferdewagen. Auch unsere nächsten Verwandten und Nachbarn schlossen sich uns an. So waren wir insgesamt etwa 25 Mann — kleine Kinder und Behinderte eingeschlossen -, die nicht zu Fuß gehen konnten. Deshalb gab es für Hab und Gut nicht allzu viel Platz auf dem Wagen. Doch das kümmerte damals kaum jemanden. Alle warensich sicher, dass es auseichen würde, das linke Ufer des Dnjeprs zu erreichen und dass man dort in Sicherheit sei. Nach einem Monat würden dann die Deutschen wieder vertreiben sein und man wird nach Hause zurückkehren können. Der Großvater hatte im nächsten Dorf auf der anderen Seite des Flusses einen alten Freund, der uns helfen würde und bei dem wir alle eine Zeit lang unterkommen könnten. Von den Wänden wurden alle großen Fotos, auf denen die Söhne in Uniformen abgebildet waren, abgenommen und diese gemeinsam mit den Schlüsseln und der Bitte auf alles achtzugeben, dem Nachbarn übergeben.

Am frühen Morgen des 2. Juli, noch bevor die Hitze einsetzte — der Sommer war in diesem Jahr besonders heiß – machten wir uns auf den Weg in Richtung Brücke über den Dnjepr. Wir kamen nur sehr langsam voran. Völlig unerwartet trafen wir, als wir die Brücke zur Hälfte überquert hatten, auf meine Mutter, die plötzlich vor uns stand — barfuß und mit einem Bündel über den Schultern. Sie hatte sich von Gomel aus auf den Weg zu mir gemacht. Sie war in Richtung Front gegangen. Manchmal hatte man sie mitgenommen, dann war sie wieder zu Fuß weitergegangen. Ihr half der Umstand, dass sie eine Bescheinigung besaß, mit der sie sich als Frau eines Majors der Roten Armee ausweisen konnte. Wenn sie eine halbe Stunde später über die Brücke gekommen wäre, hätten wir uns nie wieder gesehen, denn buchstäblich einige Minuten, nachdem wir die Brücke überquert hatten und uns in einem kleinen Wäldchen in der Nähe zu einer Rast niedergelegt hatten, gab es eine Explosion von gewaltigem Ausmaß. Man hatte die Brücke gesprengt. Und schon am Morgen des 3. Juli war Bychow von den Deutschen eingenommen worden. Um sich ein Bild zu machen, welches Schicksal uns ereilt hätte, wenn wir nicht rechtzeitig geflüchtet wären, sage ich nur, dass in den Jahren der deutschen Besetzung alle Juden, die es nicht geschafft hatten, die Stadt zu verlassen, hingerichtet wurden. Es waren in der Stadt und in den umliegenden Dörfern von Bychowo insgesamt etwa 5000 Menschen.

Die Sprengung der Brücke veranlasste nun scheinbar die Erwachsenen zu begreifen, dass man schneller gehen müsse, um so weit wie möglich nach Osten zu kommen. Nachdem wir bei dem Freund meines Großvaters übernachtet und gegessen hatten, zogen wir weiter. Am Abend des nächsten Tages erreichten wir das Dorf Dabusha. Der Vorsitzender der Kolchose empfing uns herzlich und ließ uns im Schulgebäude unterkommen, nachdem wir ihm versichert hatte, am nächsten Tag den Kolchosbauern auf dem Feld zu helfen. Die arbeitsfähigen Frauen gingen deshalb am nächsten Morgen bei Morgengrauen aufs Feld. Wir Kinder, die anderen Alten und der behinderte Mann meiner Tante blieben in der Schule zurück. Meine Großmutter beaufsichtigte unser Spiel. So um die Mittagszeit stieg aus dem benachbarten Wald Rauch auf und ein Junge aus dem Dorf kam angerannt und schrie, dass die Deutschen das Nachbardorf bombardierten. Bald darauf hörte man dann auch schon das bekannte Heulen der deutschen Flugzeuge. Vier Bomber setzen zum Tiefflug über unser Dorf an. Nachdem meine Großmutter gerade alle uns Kinder in das Schulhaus getrieben hatte, krachte es plötzlich ohrenbetäubend.Die Druckwelle einer Explosion riss mich zu Boden. Alles wurde in eine dichte Rauchwolke gehüllt, und sofort zeigten sich überall Flammen. Es begann nach Verbranntem zu riechen. Ich war wie betäubt und fühlte irgendetwas Heißes im Nacken. Ich begriff schnell, dass es Blut war.  Erst jetzt sah ich, dass meine linke Schulter bis auf die Knochen aufgerissen war. Doch da kam schon meine Mutter angerannt, nahm mich in ihre Arme und zog mich nach draußen. Sie wusch  meine Wunde mit Wasser aus dem Brunnen und verband meine Schulter mit ihrem Kopftuch. Rund herum herrschte das Grauen: Schreie von Verwundeten, das Bellen der Hunde, das Wiehern der Pferde aus dem brennenden Pferdestall. Doch all das war den Deutschen nicht genug. Aus ihren Flugzeugen im Tiefflug eröffneten sie mit ihren Maschinengewehren das Feuer auf das Dorf und seine wehrlosen Bewohner. Meine Mutter und ich versuchten aus dieser Hölle zu entkommen. Beide waren wir barfuß und das Laufen auf den Stoppeln des abgemähten Feldes tat sehr weh. Wir liefen auf die Landstraße und sahen einen Lastkraftwagen näher kommen. In ihm saßen Soldaten. Der Wagen hielt. Ein junger Kommandeur sprang aus dem Fahrerhaus, verband meine Wunde und brachte uns, nachdem er gehört hatte, dass mein Vater Major ist, in ein Feldlazarett, das sich in einem Wald ganz in der Nähe befand.  Obwohl meine Wunde an der Schulter sehr gefährlich aussah, war der Knochen zum Glück nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Meine Wunde am Kopf erwies sich auch nur als eine kleine Platzwunde. Im Lazarett befanden wir uns mit meiner Mutter nun ohne irgendwelche Ausweispapiere, ohne Schuhe und fast nackt. Ich hatte nur ein völlig mit Blut getränktes Unterhemd und eine Unterhose an. Meine Mutter trug nur ein dünnes Sommerkleid. Sie nutzte die Gelegenheit, gemeinsam mit einem Sanitätswagen nach Dobusha zurückzufahren, der dorthin unterwegs war, um den Bauern, die im Dorf verwundet worden waren, Erste Hilfe zu leisten. Dort gelang es meiner Mutter auch wieder an ihren Ausweis zu kommen, an meine Geburtsurkunde und an eben diesen Beleg, der besagte, dass sie die Frau eines Majors ist. Das war ein großes Glück. Sie brachte auch etwas an Kleidung mit zurück. Man kann sich vorstellen,was es sie gekostet haben muss, mich mit meiner Wunde alleine zurückzulassen und das Risiko einzugehen, mich wieder verlieren zu können. Doch einen anderen Ausweg gab es nicht.

All das, was sich im Lazarett abspielte, kann man unmöglich mit Worten beschreiben. Da die Zelte nicht ausreichten, lagen viele — unter ihnen auch schwer Verletzte und Menschen, die im Sterben lagen — unter freiem Himmel. In der Luft stand der Geruch von Blut, faulendem oder verbranntem Fleisch und Exkrementen, von dem einem übel wurde. Darüber hörte man überall Stöhnen und Schreie. Die Verwundeten baten unaufhörlich um etwas zu Trinken. Die Sanitäter liefen sich die Beine wund beim Heranschleppen von Wasser aus irgendeinem Teich in der Nähe. Es waren einfach viel zu wenig Sanitäter im Einsatz. Meine Mutter half, wo sie konnte. Am nächsten Tag wurden wir zusammen auf einen der Lastwagen geladen, auf dem die Verwundeten in Richtung Bahnstation Kritschew gebracht werden sollten, von wo aus Lazarettzüge in Richtung Osten fuhren. Kaum hatten wir den Wald verlassen und waren aufs offene Feld gelangt, erschienen von irgendwoher zwei deutsche Kampfflugzeuge, die auch sofort begannen, die Lastwagen mit Maschinengewehren zu beschießen, obwohl die LKWs mit dem Roten Kreuz gekennzeichnet waren. Die Autos machten halt. Die Verwundeten (die, die es konnten) sprangen von den Wagen und flüchteten in alle Richtungen. So sprangen auch wir, meine Mutter und ich, vom Wagen und liefen bis zu irgendeinem Baum, wo wir uns auf den Boden warfen und meine Mutter sich mit ihrem Körper auf mich legte. Ich konnte genau sehen, wie einige Kugeln den Baum trafen und fühlte, wie über uns Teile der Rinde niederfielen. Zum Glück beendeten die Flieger bald ihre Feuersalvenund flogen von dannen. Glücklicherweise hatte auch nicht einer der Laster Schaden genommen. Erst am frühen Abend erreichten wir dann Kritschew. Auf dem Bahnhof standen überall Lazarettzüge, neben denen hunderte Verwundete darauf warteten, endlich in den Zug verladen zu werden. Und wieder näherten sich deutsche Flugzeuge. Dieses Mal warfen sie Bomben nieder. Doch es wurde bald dunkel, sodass der Angriff nur kurz war.

Nach einigen Tagen erreichten wir Tula. Es schien eigentlich, dass wir nun schon weit genug ins Hinterland gelangt waren. Doch als wir in Tula ankamen, wurdedort gerade Luftalarm ausgelöst. Ich wurde ins Krankhaus eingeliefert, nach einigen Tagen jedoch von dort wieder entlassen, weil meine Mutter ihr Ehrenwort gegeben hatte, dass ich regelmäßig zum Verbinden erscheinen werde. Während der Tage, die ich im Krankenhaus war, hatte es meine Mutter irgendwie geschafft, einen Arbeitsplatz am Fließband in einer Fabrik und ein Bett in einem Wohnheim zu bekommen. Dort wurden ihr auch ein paar abgetragene Kleidungsstücke für uns beide gegeben. Das Wohnheim für die Fabrikarbeiterinnen befand sich im Keller eines Wohnhauses. In einem großen, finsteren Raum standen etwa zwanzig eiserne Betten mit je einem Nachtschränkchen. In einem dieser Betten schliefen wir nun, meine Mutter und ich — in den anderen Arbeiterinnen, meistens junge Mädchen.

Wie immer am 1. September ging ich wieder zur Schule – in diesem Jahr in die 4. Klasse. Nach dem Unterricht ging ich zu meiner Mutter auf die Arbeit, um dort mit ihr zusammen in der Betriebskantine zu essen. Wo und was ich morgens und abends gegessen habe, weiß ich schon nicht mehr. Ich muss sagen, dass uns die Menschen in Tula überall mit aufrichtigem Mitleid entgegen getreten sind. Viele halfen uns. Ich habe von meiner Mutter nie eine Beschwerde oder ein Wort des Ärgers über irgendwen gehört -weder über ihre Kollegen noch über die Leute in den Ämtern, an die sich ja oft wenden musste. Und nachdem sie eines Tages auf dem Werksgelände eine Tasche gefunden hatte, in der sich eine große Menge Bargeld befand, diese daraufhin an den Eigentümer zurückgegeben und die kleine Betriebszeitung darüber einen Mitteilung geschrieben hatte, kamen selbst ihr völlig unbekannte Menschen auf sie zu und sprachen ihr ihrer Achtung und Unterstützung aus. Doch bald kam der Krieg auch bis nach Tula. Jeden Tag wurde Luftalarm ausgelöst und die Stadt bombardiert. Manchmal sogar auch einige Male am Tag. Es kamen Gerüchte in Umlauf —  die übrigens gar nicht so weit hergeholt waren — dass die Deutschen die Stadt eingeschlossen hätten. Der Betrieb bereitete sich auch seine Evakuierung vor. Und so machten wir uns am 10. Oktober wieder auf den Weg. Wir hatten einen Platz in einem beheizten Güterwagon gefunden, der aber über den Rand mit Menschen gefüllt war. An Proviant hatten wir nichts als eine große gefüllte Teigtasche. Manchmal gelang es meiner Mutter irgendetwas Essbares in den Lebensmittelpunkten auf den Bahnstationen zu ergattern. Natürlich bekam alles das, was am ehesten nach Essbarem aussah, ich. So wurde meine Mutter immer schwächer. Dazu verdarb sie sich auf der Reise auch noch den Magen. Einer von den Mitreisenden im Zug vermuteten bei ihr Typhus und forderte, dass man sie an der nächsten Bahnstation aus dem Zug setzen solle. Doch es fanden sich gute Menschen, die schützend vor sie traten. Zum Glück ging es ihr dann auch bald wieder besser. Einmal, als sie auf einer Bahnstation auf der Suche nach etwas Essbarem war, wurde unser Zug auf ein anderes Gleis verlegt und meine Mutter konnte ihn in der Dunkelheit nicht wiederfinden. Jemand sagte dann, dass er irgendwo in der Ferne eine Stimme höre, die sich anhöre, wie die ihre. Alle begannen sie zu rufen und nur so hat sie uns wiederfinden können. Wieder hätten wir uns fast verloren. Zu guter Letzt gelangten wir bis in den Ural, denn dorthin war die Fabrik evakuiert worden. Es war sehr kalt und es wehte ein eisiger Wind, obwohl es noch nicht Winter geworden war. Wir hatten überhaupt keine Kleidung für den Winter und so entschied meine Mutter nach Mittelasien zu reisen. Wir wechselten den Wagon und gerieten so in einen anderen Zug mit polnischen Kriegsgefangenen, die man aus den Kriegsgefangenenlager im Norden nach Usbekistan brachte, wo die polnische Armee unter dem Kommando von General Anders gebildet werden sollte. Ich hatte Angst vor ihnen. Sie alle waren in verlauste Lumpen gekleidet — in die Reste jener Uniformen, in denen sie 1939 gefangen genommen worden waren. Sie hassten die UdSSR und freuten sich über das Unglück, das über uns alle hereingebrochen war.

Erst Anfang November erreichten wir Taschkent. Von dort wurden wir nach Samarkand geschickt. Auf dem früheren Markplatz von Samarkand war unter freiem Himmel ein Flüchtlingslager eingerichtet worden. Zunächst wurden dort alle Flüchtlinge registriert, um sie dann auf die verschiedenen Dörfer und Siedlungen im Gebiet von Samarkand zu verteilen.  Gleichzeitig konnte man so aber auch in den Listen der Flüchtlinge, die früher hier durchgekommen waren, nach Namen von Personen suchen, die man kannte. Wir mussten erst 2 oder 3 Tagen warten bis wir an der Reihe waren und registriert wurden. Wie durch ein Wunder fand meine Mutter damals in den Listen den Namen meines Großvaters und erfuhr, dass dieser sich mit der Familie in Gallja Aral befand. So sind wir wieder alle zusammengekommen.  Wir bezogen zu zehnt eine sommerliche Hütte, die nur einen Raum hatte und einen Lehmboden. Unter dem Vordach fanden wir einen kleinen Kocher, auf dem wir etwas zu Essen bereiten konnten. Wir schliefen alle nebeneinander auf dem Boden. Mein Großvater und der Mann von Tante Maria fanden Arbeit in einer Schusterwerkstatt. Ich ging zur Schule. Die Frauen kümmerten sich um die Hauswirtschaft und sammelten Brennzeug für den kleinen Kocher. Das Essen reichte nur, um nicht ganz zu verhungern. Lebensmittelkarten gab es dort noch nicht. Den Flüchtlingen wurde ganz selten eine winzige Ration an Lebensmitteln zugeteilt. Fladenbrot und süße usbekische Zwiebeln mit Öl waren unsere Hauptspeise. Fleisch gab es überhaupt nicht. Es kam der Winter und mit ihm die Kälte. Eine meiner Tanten erkrankte an Typhus und sie begann damit alle der Reihe nach anzustecken, mich mit eingeschlossen. Nur wie ein Wunder überlebten wir alle trotz des Fehlens von normaler Nahrung und Medikamenten. Als der Frühling kam, wurde auch das Leben einfacher. Meine Mutter begann an sämtliche Behörden und Ämter Anfragen bezüglich meines Vaters zu verschicken — jedoch ohne Erfolg. Doch plötzlich erhielten wir von ihm selbst einen Brief. Es ist verblüffend, dass der Brief zeitgleich mit einem Antwortschreiben auf ihre Nachfrage bezüglich des Schicksals meines Vaters ankam, in dem das Volkskommissariat für Verteidigung ihr mitteilte, dass über seinen Verbleib nichts bekannt sei, da er in einer Abteilung dieses Kommissariats in Moskau seinen Dienst täte. Auf irgendwelche Weise war mein Vater an die Adresse meines Großvaters gekommen, ohne zu wissen, dass auch wir, meine Mutter und ich, dort waren. Weiter wurde es noch besser. Meine Mutter erhielt eine offizielle Einladung von meinem Vater und auch eine Fahrkarte nach Moskau. Mein Vater holte uns vom Bahnhof ab. Am Himmel über Moskau hingen Ballons der Luftverteidigung und auf den Straßen lagen überall Panzersperren. Die Luftlandungstruppe meines Vaters war in der Siedlung Vnukovo stationiert. Dort verlebten wir gemeinsam mit ihm zehn Tage — nicht mehr. Man hatte bereits begonnen, Teile der Einheit hinter die Frontlinie zu verlagern und jeden Tag konnte dies auch meinen Vater betreffen. Ein früherer Kamerad meines Vaters, der an der Front einen Arm verloren hatte, war nun der Vorgesetzte der Wachtruppen in einer großen Waffenfabrik in Kunzevo und besorgte meiner Mutter dort einen Arbeitsplatz. Es wurde uns sogar ein Zimmer zugeteilt. Sofort nachdem wir dorthin umgezogen waren, wurde auch mein Vater hinter die Front verlegt.

So blieben wir erneut mit meiner Mutter zu zweit allein. Damals war Kunzevo eine Kreisstadt im Moskauer Gebiet. Um von Kunzevo nach Moskau zu kommen, musste man mit einem Zug fahren, der von einer Dampflock gezogen wurde. Mir scheint es, dass erst 1945 die ersten elektrisch betriebenen Regionalzüge aufkamen. Heute ist Kunzewo ein Stadtteil von Moskau. Wir wohnten damals in der Siedlung für die Arbeiter der Fabrik in einem zweistöckigen Haus, das einer Baracke glich. Auf der Etage gab es eine Gemeinschaftsküche mit einem Waschbecken mit Abfluss, die Toiletten befanden sich auf dem Hof. Jedes Zimmer bot Platz für ein Bett, einen kleinen Tisch und zwei Hocker. Meine Mutter hatte eine Anstellung in einem Büro gefunden, wo die Passierscheine für die Fabrik ausgestellt wurden. Doch oft wurde sie, wenn es an Arbeitskräften mangelte oder irgendwelche Arbeiten dringend erledigt werden mussten, in die Produktionshallen geschickt, um dort auszuhelfen. Es kam auch vor, dass sie gemeinsam mit anderen Arbeiterinnen mehrere Tage hintereinander in der Fabrik blieb. Ich war ein wohl erzogener und gehorsamer Junge, war gut in der Schule und las viel. Ich meine sagen zu können, dass ich meiner Mutter keine unnötigen Sorgen und Probleme bereitete. Die Jungs in unserem Haus und die aus dem Nachbarblock waren eher richtige Lausbuben. Trotzdem kam ich mit ihnen gut aus. Ich lieh ihnen sogar manchmal, wenn sie mich darum baten, das Finnenmesser von meinem Vater mit seinem besonderen Griff — zusammengesetzt aus verschiedenfarbigen Plastikteilen. Es kam der Winter 1942 und mit ihm die Probleme. Die Heizung im Haus war ausgefallen. Der kleine Kanonenofen konnte nur wenig Wärme spenden. Es war auch gefährlich, ihn über Nacht ohne Aufsicht brennen zu lassen. Einmal fand mich meine Mutter, als sie morgens nach einer Nachtschicht nach Hause kam, mit einer Rauchvergiftung bewusstlos am Boden liegen. Am Morgen war das Wasser im Eimer immer mit einer leichten Eisschicht bedeckt. Lebensmittel wurden auf Marken ausgegeben und das auch nicht täglich oder nicht immer das gesamte Assortiment. Es war meine Aufgabe, die Lebensmittel heranzuschaffen. Das Geschäft, das für uns zuständig war, befand sich recht weit entfernt. Man musste durch eine kleine Flussniederung gehen, um es zu erreichen. Einmal stieg ich auf dem Rückweg mit den Lebensmitteln beladen den Abhang zum Flüsschen hinab, hatte dann aber keine Kräfte mehr, um auf der anderen Seite den wegen Eisglätte rutschigen Abhang wieder nach oben zu steigen. Mir kam eine Frau zu Hilfe. Nachdem sie mir an die Stirn gefasst hatte, sagte sie mir, dass ich Fieber hätte. Und so war es wirklich. Ich lag daraufhin einige Tage mit hohem Fieber im Bett. Mit der Lebensmittelversorgung wurde es immer schlechter. Für das Geld, das meine Mutter erarbeitete und das wir dank einer Bescheinigung auch für meinen Vater bekamen, konnten wir praktisch nichts kaufen, denn es gab nichts zu kaufen. Meine Mutter trieb von irgendwoher eine selbstgezimmerte Mühle auf, mit der ich abends mit der Hand Korn mahlte, das es anstelle des Mehls  gab, das uns eigentlich auf Marken ausgegeben werden sollte. Aus getrockneten Kartoffelschalen und diesem gemahlenen Korn backte meine Mutter dann kleine Pfannkuchen.

Im Herbst 1992 kam es zu schweren Gefechten in Richtung Stalingrad und dann in Stalingrad selbst. Mein Vater war auch dabei. Über die Verteidigung Stalingrads ist viel geschrieben und es sind eindrucksvolle Filme gedreht worden. Die Schlacht um Stalingrad hält man für die entscheidende Schlacht des Krieges. Doch für mich und auch für viele andere, mit denen ich damals darüber sprach, war die entscheidende Schlacht jene um Moskau gewesen. Denn nach ihr bekamen unsere Truppen wieder Selbstvertrauen und man getraute sich zu hoffen, dass wir am Ende doch siegen werden. Es ist schwer zu sagen, woher die Menschen diese Gewissheit nahmen. Vielleicht deshalb, weil die Luftangriffe auf Moskau immer seltener und dann auch ganz eingestellt wurden. Vielleicht aber auch weil Radio und Zeitungen die Schwere der Lage nicht noch weiter dramatisierten. Auf jeden Fall erlebten wir die Schlacht um Stalingrad irgendwo in weiter Ferne, und sie war für uns irgendwie auch gar nicht so wichtig.

Der Winter 1942 machte uns deutlich, dass wir ohne den Anbau von eigenem Gemüse in einem kleinen Garten nicht überleben können. Meine Mutter und ich nahmen deshalb das Wenige, was wir besaßen und versuchten, es in den umliegenden Dörfern in Saatgut einzutauschen. Es gelang uns dabei, gutes Saatgut von verschiedenen Gemüsesorten aufzutreiben. Ja sogar eine gute Kartoffelsorte! Dafür mussten wir das Wertvollste, was mir gehörte, hergeben – ein Akkordeon, das einst mein Vater von seinem Chauffeur zum Abschied geschenkt bekommen hatte. Ich musste mich also von meinem Traum verabschieden, das Akkordeonspielen zu erlernen. Meine Mutter hatte keine Erfahrung mit der Arbeit im Garten, doch unsere Nachbarn berichteten uns gerne von den ihrigen. Einiges erlasen wir uns auch aus Büchern, und so machten wir uns dann im Frühjahr an die Arbeit. In dem kleinen Garten, der ganz in der Nähe unseres Hauses lag, wuchs sämtliches Kleingemüse: Radieschen, Rote Bete, Dill, Möhren, Salatköpfe, Zwiebel und sogar auch Mohn. Der Garten, der weiter weg lag, versorgte uns mit den Grundlagen unserer Mahlzeiten: Kartoffeln und Weißkohl. Unsere gesamte freie Zeit verbrachten wir mit der Arbeit im Garten. Dafürbeschenkte uns dann aber auch die Erde in Füllefür unsere Mühen. Niemand hatte eine so reiche Ernte und so schönes Gemüse wie wir. Unsere Nachbarn baten meine Mutter dann öfter nach einem Glas Sauerkraut. Ich weiß nicht mehr, wie meine Mutter das Sauerkraut zubereitete, doch ich habe später nie wieder so ein leckeres Sauerkraut gegessen. Das Problem mit der Ernährung hatten wir also gelöst. Dazu bekamen wir dann auch später auf unsere Lebensmittelmarken amerikanische Lebensmittel. Dies waren vor allem Eipulver, Fleischkonserven und Schweinespeck. In Barchiv wurde für die Kinder der Fabrikarbeiter ein Ferienlager organisiert. In den Kinos liefen amerikanische und sowjetische Musikfilme: „Adoptiertes Glück“, „Let George do it“, „Die Herzen Vierer“, „Um 6 Uhr abends nach dem Krieg“ usw. Im Gorkipark fand eine Ausstellung statt, in der erbeutetete Waffen gezeigt wurden. Die ersten privaten Geschäfte, Restaurants und Cafés wurden eröffnet. Zwischen Kunzevo und Moskau nahm ein elektrisch betriebener Regionalzug seinen Betrieb auf. Überall war zu spüren, dass der Krieg bald ein Ende nehmen wird. Obwohl dieser jedoch immer noch im Gange war, kamen bereits die ersten Züge mit Soldaten von der Front zurück und fuhren durch Kunzevo in Richtung Osten weiter. Wir Kinder liefen zum Bahnhof und sprachen mit unseren Soldaten, die voll behangen waren mit Orden und Medaillen. Wir waren glücklich, wenn es uns gelang von ihnen irgendein Andenken, wie zum Beispiel eine ausländische Münze zu bekommen oder auch nur, wenn wir ihren Erzählungen lauschten. Sie wussten und verbargen es nicht, dass sie in den Fernen Osten verlegt wurden. Doch dann war plötzlich der lang ersehnte Tag des Sieges über das faschistische Deutschland endlich da. Doch der Krieg war damit noch nicht beendet. Im August 1945 trat die UdSSR in den Krieg mit Japan ein. Mein Vater war auch dort dabei – auf dem Territorium der Mandschurei. Dort „verdiente“ er sich den letzten seiner militärischen Orden — den „Orden des Vaterländischen Krieges 1. Ranges“.

Im Januar 1946 trafen wir dann endlich wieder mit meinem Vater zusammen. Dies geschah in Atschinsk im Gebiet von Krasnojarsk. Wir lebten dort außerhalb der Stadt in der Garnison. Die Kinder der Offiziere wurden bei minus 40 Grad in einem offenen Geländewagen zur Schule gefahren. Dann zogen wir nach Krasnojarsk um und dann nach Baku. Nach Krasnojarsk mit seinen Frösten bis minus 55 Grad schien mir Baku das reinste Paradies zu sein. Hier probierte ich das erste Mal in meinem Leben Tomaten. Ganz zu schweigen von Weintrauben, Feigen, Stör, schwarzem Kaviar und vieler anderer Köstlichkeiten, die mir bis dahin völlig unbekannt waren. In meine Klasse lernten Russen, Juden, Armenier, Aserbaidschaner, Georgier und Lesginer zusammen. Alle waren wir Freunde untereinander. Diese wunderbare, damals so internationale Stadt ist für mich dann Heimat geworden.

Nachdem ich die Schule beendet hatte, begann ich ein Studium am Schiffbauinstitut in Leningrad. Nach meinem Abschluss dort arbeitete ich zunächst in Tallin, kehrte dann aber wieder nach Baku zurück. Von dieser Zeit an hatte meine Arbeit immer mit der Erforschung der Entstehung von Erdöl und Erdgasvorkommen in flachen Meeren zu tun. Danach Krasnodar, dann Vyborg und am Ende Moskau.

In den schwierigen Neunzigern reisten mein Sohn und seine Frau nach Kanada aus. 1995 verstarb meine schwer kranke Frau. Ich blieb allein zurück und entschied mich zu meinem Sohn überzusiedeln. In Kanada erwartete mich das typische Schicksal eines Emigranten der 90iger Jahre. Ich versuchte niemandem zur Last zu fallen und arbeitete als Tellerwäscher in einem Restaurant, machte in den Umkleideräumen der Arbeiter in einer Gießerei sauber, bis ich dann im Alter von 70 Jahren eine Anstellung in einem soliden Ingenieurbüro fand, das an einem Projekt arbeitete, in dem es um die Erkundung des Schelfs von Sachalin ging. Jetzt bekomme ich Rente. Ich habe eine schöne Wohnung und bin materiell unabhängig.

Ich möchte noch einiges über das Schicksal meines Vaters sagen. Zu Beginn der 50iger Jahre herrschte in der UdSSR eine antisemitische Stimmung, ja man kann sogar von einer ganzen Kampagne sprechen. Mein Vater wurde aus der Armee entlassen und mit einer winzig kleinen Rente moralisch kaputt gemacht. Er erkrankte damals stark. Erst als Chruschtschow an die Macht kam, wurde die Angelegenheit meines Vaters gerecht neu beurteilt. Er bekam die normale Rente eines Obersts im Ruhestand. Seine Gesundheit konnte ihm nur leider niemand wieder zurückbringen. Doch dank der Hingabe und der Mühen meiner Mutter lebte er noch bis 1979. Meine Mutter überlebte ihn jedoch nicht lange. Beide liegen heute in Baku begraben.

Alexander Efimowitsch Fradkin im Jahre 2012.

Zum Ende möchte ich noch kurz meine Gedanken darlegen, worin ich persönlich die Gründe des Großen Vaterländischen Krieges sehe und was für mich seine Folgen sind, obwohl diese sich von der offiziellen Version und der Sichtweise vieler Historiker und Schriftsteller unterscheiden. Ab 1937 begann Stalin systematisch zuerst die höchste und dann die mittlerer Kommandoebene der Roten Armee zu liquidieren. Tausende der erfahrensten, gebildetsten und aktivsten Fachleute auf dem Gebiet der Kriegsführung wurden umgebracht oder in Lager gesteckt. Ein ähnliches Schicksal ereilte die besten Wissenschaftler, Ingenieure und Leiter der Industriezweige, die für die Landesverteidigung arbeiteten. In den entscheidendsten Jahren, als in Europa ein Weltkrieg entbrannt war, war die technische Umrüstung der Roten Armee praktisch eingestellt, die größten Panzer- und Luftlandungsverbände aufgelöst worden. Die Armee, die bis dahin die stärkste in ganz Europa, ja vielleicht sogar in der ganzen Welt war, war ohne Führungsspitze. Und dies geschah ohne jegliche Einmischung von außen — nur nach dem Willen einer einzigen Person, des Führers des Landes. Ich glaube nicht, dass sich in der gesamten Weltgeschichte ein ähnliches Beispiel finden lässt. Ein solches „Geschenk“ konnte Hitler einfach nicht ausschlagen. Auch wenn man ihn einen Wahnsinnigen nennt, so wäre er doch niemals das Risiko eines Krieges an zwei Fronten eingegangen, wenn die Stärke der Roten Armee nicht durch Stalin ruiniert worden wäre.

Natürlich war der Krieg gegen Deutschland nicht zu umgehen. Doch es wäre nicht so gekommen, wie es gekommen ist. Viel eher wäre die Initiative zu solch einem Krieg von der UdSSR ausgegangen und der Krieg hätte nicht auf unserem Territorium stattgefunden. Viele meinen, dass die Tatsache, dass der Krieg unerwartet begonnen hat, eine Rolle gespielt hat. Das stimmt aber nicht. Sogar die Kinder damals wussten, dass es Krieg geben wird. Sie wussten auch, gegen wen wir kämpfen werden. Bei allem was wir von Stalin über sein manisches Misstrauen wissen, ist es nur schwer vorstellbar, dass er Hitler auch nur ein bisschen vertraut haben, den vielen Signalen jedoch, die einen baldigen Ausbruch des Krieges andeuteten, kein Gehör geschenkt haben soll. Wir bereiteten uns ja in der Tat auf den Krieg vor. Doch wir hatten viel Zeit vergeudet und auf die Positionen der durch die Repressalien aus ihren Ämtern enthobenen früheren Kommandeure der Armee kamen andere, die kein Talent hatten und völlig passiv waren. Die untere Kommandoschicht war desorientiert und in Angst und Schecken versetzt. Das Ergebnis sind viele Millionen Gefallene und Verkrüppelte, Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt und die unendlichen Leiden der Menschen. Dies war der Preis für unseren Sieg. Darin sehe ich die persönliche Schuld Stalins. Deshalb finde ich es bitter und peinlich solche Diskussionen mit anhören zu müssen, in denen von der hervorragenden Rolle Stalins im Großen Vaterländischen Krieg oder über die Idee der Stadt Wolgograd den Namen Stalingrad wiederzugeben und viele andere solche irrsinnigen Dinge gesprochen wird.

Calgary 2012

 Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

 

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