13 Oktober 2013| Djatschenko Nikolaj Iwanowitsch

Briefe sowjetischer Kriegsgefangener. Nikolaj Djatschenko

Ukraine, Donezk, 14.11. 2005

Sehr geehrte Herrschaften!

Ich habe Ihren Brief erhalten und danke Ihnen fuer die Aufmerksamkeit und Achtung.

Ich, Nikolaj Iwanowitsch Djatschenko, geboren 1921, wurde am 19. Juni 1941 in die Armee einberufen. Auf den Krieg traf ich an der Grenze zu Polen. Am 29. Juli 1941 kam ich bei der Stadt Minsk in Gefangenschaft und wurde in das polnische Lager Ostroew Mazowiecka gebracht, wo ich mich zwei Monate lang befand. Besondere Erinnerungen an den Aufenthalt in dem Lager sind mir keine geblieben, da es ein Durchgangslager war.

Im Oktober 1941 wurde ich nach Deutschland in ein Lager bei Neustadt [1] ge­schickt, wo ich bei der Eisenbahn an der Station Titisee arbeitete. In dem Lager lebten ungefaehr 50 Kriegsgefangene. Wir lebten in Baracken, und die Verpflegung war im Vergleich zu anderen Lagern, in denen wir uns danach aufhalten mussten, verhaeltnismaessig gut. Ich erinnere mich, dass der aeltere Aufseher bei uns ein Herr Schuster war, 32 Jahre, an einer Hand hatte er keine Finger, und wir nannten ihn den »Fingerlosen«. Er fragte uns, warum wir ihn so nennen, und wir antworteten: »Weil Sie keine Finger haben.« Obwohl wir Kriegsgefangene waren, verhielt er sich gut zu uns. Sein Gehilfe, 27 Jahre alt, an den Familiennamen erinnere ich mich nicht, verhielt sich ebenfalls uns gegenueber nicht schlecht. Ich denke, das war deshalb so, weil wir gut arbeiteten.

Manchmal kamen Viehzuechter aus den umliegenden Doerfern zu uns und suchten ein paar Kriegsgefangene auf kuerzere Zeit fuer die Landarbeit aus. Ich erinnere mich, dass die Bauern ziemlich gut mit mir umgingen, sie gaben mir gut zu essen, da ich gut arbeitete.

Ich schicke Ihnen ein Foto, das ein deutscher Offizier waehrend meines Aufenthalts in diesem Lager aufgenommen hat — ich bin der Zweite von links in der oberen Reihe.

In diesem Lager war ich bis zum Oktober 1943. Wegen einer Flucht aus dem Lager wurde ich als Strafarbeiter ins Konzentrationslager Geilenberg (Nr. 7001 ) [2] geschickt, wo ich mich acht Monate lang befand. Das war ein Lager mit strenger Ordnung. Man verpruegelte uns oft, trieb uns nackt in den Frost hinaus und uebergoss uns mit kaltem Wasser. Als wir Gruben aushoben und dort die Toten hineinwarfen, stiess die Wache mit dem Gewehrkolben die Schwaechsten der Grabenden in die Gruben, und wir mussten sie bei lebendigem Leibe zusammen mit den Toten begraben.

Obere Reihe zweiter von links: Nikolaj Iwanowitsch Djatschenko, zwischen 1941 und 1943 im Stalag VB von einem deutschen Offizier aufgenommen

Nach dem Abbuessen der Strafe in diesem Lager wurde ich in das Lager Nr. 326 [3] in der Stadt Ulm geschickt. Wir arbeiteten im Steinbruch, die Arbeit war sehr schwer, das Verhalten der Deutschen sehr grausam. In diesem Lager erlitt ich viel Schweres und blieb dort bis zur Befreiung am 22. April durch die amerikanischen Truppen.

Nach der Rueckkehr in die Heimat wurde ich zur Arbeit in den Donbass geschickt. 40 Jahre lang arbeitete ich im Donezker metallurgischen Werk als Werkmeister der Dampfkrafthalle. Nach dem Uebergang in die Rente machte ich eine leichtere Arbeit. Ich hoerte dann auf zu arbeiten und trat in den Ruhestand ein im Alter von 83 Jahren. Vor 13 Jahren beerdigte ich meine Frau, mit der ich 45 Jahre lang gluecklich zusammenlebte.

Heute lebe ich mit meiner Tochter, Enkelin und Urenkelin zusammen. Ich habe eine gute Tochter und Enkelin grossgezogen, gab ihnen eine hoehere Ausbildung, obwohl ich selber nur vier Klassen abgeschlossen habe. Die Tochter ist schon in Rente, aber beschaeftigt sich weiterhin, sie arbeitet als Rechtsexpertin. Die Enkelin ist Lehrerin fuer russische Sprache an der Universitaet. Freude bereitet mit ihren Erfolgen die Urenkelin, sie lernt gut, beschaeftigt sich mit Sporttanz, sie ist Champion Donezker Gebiets.

Oft bitten mich meine Kinder an langen Winterabenden beim Abendessen, ueber Krieg zu erzaehlen, darueber, was ich in der Gefangenschaft durchlebte. Und ich erzaehle, weil es Gott gefiel, dass ich durch solche Pruefungen hindurchging und am Leben blieb.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir die Moeglichkeit gaben, auch anderen Men- schen ueber jene schwierigen Jahre zu erzaehlen, was ich, ein einfacher Soldat, der schon ganz am Anfang des Krieges in Gefangenschaft kam, erdulden musste.

Und ich moechte dem deutschen Volk, und besonders den jungen Menschen, sagen, dass ich ein langes und kompliziertes Leben durchlebt habe, aber auf meinem Weg immer viele gute Menschen traf und dass die Deutschen auch unterschiedlich waren: sowohl jene, die sehr grausam zu mir waren, als auch jene, die heimlich ihr Brot mit mir teilten.

Ich druecke Ihnen meinen aufrichtigen Dank fuer die Achtung mir gegenueber aus und hoffe, dass meine kleine Erzaehlung ueber die Zeit des Aufenthalts und des Lebens in der Gefangenschaft Ihnen helfen wird bei Ihrer edlen Arbeit fuer das Vorwaertskommen einer solch wichtigen Sache wie der gegenseitigen Verstaendigung und Versoehnung zweier grosser Voelker.

Beim Aufschreiben meiner Erinnerungen half mir meine Tochter Tamara Nikolajewna Lushnikowa.

Mit Achtung
N.I. Djatschenko

[1] — Arbeitskommando von Stalag VB Villingen.
[2] — Hamburg-Geilenberg, Aussenlager von Neuengamme.
[3] — Stalag 326 ist Senne /Forellkrug/ Stukenbrok in Westfalen. Die Befreiung war am 2. April 1945.

Uebersetzung: Lydia Thiessen

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