10 August 2015| Kaleda Gleb, erzpriester

Aufzeichnungen eines einfachen Soldaten

Gleb Kaleda, foto 1941.

Nacht – die Erste

Rundherum die weite Steppe und die Sterne leuchten, wahrscheinlich, irgendwo  am Firmament. Der Himmel direkt über uns ist voller Leuchtkugeln und Leuchtraketen, die seine Reinheit besudeln. Von nächtlicher Stille kann keine Rede sein. Von allen Seiten hört man Schüsse, Granateneinschläge und das Knattern von Motoren. Wir werden an den Don gedrängt. Man hat uns in die Zange genommen und treibt uns nun in die Enge. Wir sind in der Steppe in einer kleinen Gruppe unterwegs, die mit der Zeit immer größer wird, denn zu uns gesellen sich immer mehr andere Soldaten, die ihr Regiment verloren haben. An der Spitze unserer Gruppe stehen zwei Leutnante. Wir schreiten voran. Ich lausche den Lauten und Geräuschen, dem Pfeifen und Krachen dieser Nacht.

Plötzlich ertönen rechts von uns Stimmen, die deutsch reden. Instinktiv laufen wir weiter nach links. Doch von dort plötzlich eine Salve aus einem Maschinengewehr. Wir werfen uns zu Boden und drücken uns fest an die Erde. Sie ist unsere einzige Retterin. Wir liegen und schweigen. Die Schüsse verstummen. Rechts hört man wieder die Stimmen der Deutschen.

—  Wir gehören zu euch! — rufen wir.

—  Ach, ihr gehört zu uns? Dann schaut mal! – Und über unseren Körpern sausen wieder ganze Maschinengewehrsalven hinweg.

—  Wir gehören zu euch!

—  Was für Halunken! Geben sich als Russen aus.

Wieder hageln die Kugeln über unsere Körpern hinweg. Irgendwer schreit auf und stöhnt.

Nacht — Die Zweite

Wir sind am Fluss, unten am Steilufer und direkt unter den Leuchtraketen der Deutschen. Der schwarze Don schwappt an sein Ufer. Jener Teil des Ufers, auf dem wir lagern, wird von allen Seiten vom Feind beschossen. Am Abhang, das wissen wir, stehen halb in die Erde gegrabenen Panzer vom Typ KW, jedoch ohne Benzin. Sie sollen durch ihre Feuersalven die Attacke des Gegners aufhalten. Noch zieht dieser all seine Reserven heran und hält uns mit Granatwerfern und Maschinengewehren in Schach. Er versucht uns zu schlagen, sowohl von Norden als auch von Süden.

Ein Stück weiter stromaufwärts machte sich ein Sanitätsbataillon mit irgendwelchen Hilfsmitteln auf den Weg, über den Don überzusetzen. Die Kugeln peitschen auf das Wasser.

—  Hilfe! Ich ertrinke! – zerschnitt plötzlich der Schrei eines Mädchens die Nacht.

—  Hi-lfe! … Hil-fe! .. Hi .. – und die Stimme brach ab.

Ob das Mädchen nun verwundet worden war oder getötet, oder ob sie einfach zu viel Wasser geschluckt hatte oder nicht schwimmen konnte, niemand wir es je erfahren. In dieser Nacht gibt es kein Empfinden für Zeit. Stunden und Sekunden sind von gleicher Bedeutung, denn Leben und Tod sind ineinander verschlungen.

Nacht – die Dritte.

Der Kampf um Leben und Tod am rechten Ofer des Dons ist vorbei. Die einen sind gefallen, andere in Gefangenschaft geraten, wieder andere sind aus der Umzingelung entwichen. Wir stehen zwischen Don und Wolga. Eine Nacht voller Sterne. Die Blätter der Pappeln regen sich kaum. Man lässt unsere Division antreten und die Waffen erheben. Zu uns treten einige Figuren und eine deutliche, machtvolle Stimme verliest in einem feierlich-traurigen Ton:

„Ich, der oberste Sergeant der Staatssicherheit Romanow, ermächtigt durch das Gesetz, verurteile Sergeant Ivanov, Wasilij Petrovitsch, wegen Feigheit und Panikmache, die sich darin ausdrückte, dass … zum Tode durch Erschießen.“ Das Urteil ist zur Vollstreckung bestätigt durch Kommissar Tjupa. Sergeant Ivanov sackt zusammen und beginnt zu heulen. Er wimmert und schreit, ganz allein gelassen von seinen Kameraden, die sich alle von ihm abgewandt haben. Die Schreie hallen in die nächtliche Stille hinaus und versetzen alles in eine schreckliche Anspannung. Plötzlich schickt sich Hauptmann Bondarenko an, zum Sergeanten zu eilen. Er hält eine Pistole in seinen zitternden Händen und schreit mit einer ihm fremden Stimme:

— Steh auf, du Schurke! Du reudiger Hund! Halt die Klappe!

Aus Todesangst erhebt sich der Verurteilte. Er schweigt eine Weile und beginnt dann erneut loszuheulen:

— Nicht mich! Ich habe fünf Kinder! Habt Erbarmen!

— Schweig, du Schuft!

Daraufhin lässt man die Abteilung hervortreten, über die er das Kommando geführt hatte. Den Soldaten wird befohlen:

— Ladet die Gewehre! Feuer!

Der verletzte Körper des Sergeanten Ivanovs fällt zu Boden und zuckt in den letzten Zügen vor dem Eintritt des Todes.

Leutnant Makarow tritt an ihn heran, führt seine Pistole an die Schläfe des Verletzten und drückt ab. Später erzählte er voller Stolz, wie er seine Pistole am Gras saubergewischt hat, da sie ganz vom Gehirn des Sergeanten vollgespritzt war.

—  So ergeht es jedem, der feige ist und im Kampf nicht seinen Mann steht!

Den Leib des Sergeanten Ivanovs stieß man in eine kleine vorher von ihm selbst gegrabene Grube und füllten sie danach mit Erde auf. Niemals wird hier, an dieser Stelle, ein Grabhügel sein, der eine Aufschrift trägt, und auch seine Frau oder seine verwaisten Kinder werden diesen Ort wohl niemals besuchen.

Einen Tag später, nach der Erschießung des Sergeanten Ivanovs, wurden wir erneut an das rechte Ufer des Dons verfrachtet. Wieder hatten uns die Panzer der Deutschen in die Zange genommen und in die Enge getrieben. Es wurde der Befehl gegeben: Der Kolonne der Panzer und Maschinengewehrsoldaten der Deutschen entgegenzutreten, damit hinter uns die Infanterie Schützengräben graben kann.

Kommissar Tjupa starb an einer gefährlichen Wunde im Bauch. Romanow verschwand während dieses Gefechts. Niemand hat ihn jemals wiedergesehen. Auch der wunderbare junge Hauptmann Djatilow fiel, wie auch viele andere, die ihr Leben lassen mussten, bei diesen Kämpfen auf den weiten Wegen, die nach Stalingrad führten.

Nacht – die Vierte

Es ist Oktober. Vor uns die Steppe von Stalingrad. Wir hocken zusammen mit Lysenkow in einer abgedeckten  Grube an der Oberkante eines Abhangs. Der Eingang zur Grube ist mit einer Zeltplane zugedeckt. Wir sind zwei Fernmeldesoldaten und tun unseren Dienst auf halbem Wege zwischen den Beobachtungsposten und der Feuerlinie. Unsere Aufgabe ist es, im Falle dass eine Telefonleitung reißt, sofort an die Stelle zu eilen, wo sie gerissen ist, um sie dort wieder zusammenzuflicken. Der Beobachtungsposten liegt an dem Hang des Hügels, direkt gegenüber des Lagers der Deutschen. Von dort aus kann man sich zu Tageszeit nicht hinausbewegen. Das bedeutet, dass für alle Reparaturarbeiten an kaputten Leitungen bis zur nächsten Siedlung wir, ich und Lysenkow, zuständig sind. In Richtung Feuerzone liefen wir dagegen immer zusammen mit den Jungs, die dort Dienst hatten.

Gewöhnlich lagen wir dicht zusammengedrängt in unserer Grube, der eine von uns mit einem Telefonhörer in der Hand. Manchmal saß auch einer an den Füßen des Anderen. Den Hörer befestigten wir, um die Hände frei zu bekommen, mit einer Binde am Kopf. Die Unversehrtheit der Leitung kontrollierten wir, indem wir die benachbarten Stationen anriefen. Nach dem Sommer war die Steppe durch die heiße Sonne und durch die Feuer wie abgebrannt. Aber es war Herbst geworden und mit ihm waren die Regen gekommen. Zweimal am Tag rannten wir mit unserem Napf ins Hinterland, um uns etwas Suppe zu holen. Es war jeden Tag einfache Graupensuppe  und sie kam uns schon aus den Ohren heraus. Der Abhang neben uns war voll mit allem, was eine Stellung von Soldaten ausmacht: Bunker und zugedeckte Schützengräben. Hier wurden auch in aller Öffentlichkeit alle natürlichen Bedürfnisse erledigt. Der Regen spülte dann die Notdurft von den Hängen in zwei kleine Teiche am Fuße des Abhangs. Der eine war einfach ein Teich bzw. eine größere Pfütze, in dem anderen verfaulte das Aas eines getöteten Pferdes. Wasser schöpften wir nur aus dem Teich, der einfach ein Teich war. Abkochen konnten wir es nirgends. Unsere Bäuche haben dies natürlich nicht lange durchgehalten. Ich hatte einfach nur Durchfall, Lysenkow dagegen Blut im Stuhl. Folglich hatte er schon bald keine Kraft mehr, die Leitung entlang zu laufen und so war ich es, der rannte und sämtliche Störungen an der Leitung reparierte. Ich bat den Chef der Fernmeldebrigade, Lysenkow ins Hinterland zu versetzen und ihn durch einen anderen Funker zu ersetzen.

— Sag mir nur, durch wen? Ich habe keine Leute! – antwortet der Leutnant. Kann er noch in der Grube liegen und den Hörer halten? Dann soll er das gefälligst noch tun! Du aber lauf! Deine Beine können dich noch tragen.

Was sollte ich also machen! Die Leitung ging aus verschiedenen Gründen kaputt: Durch Splitter von Granaten, durch Panzer oder Zugmaschinen, die drübergefahren sind, oder aber durch die Hufen von Pferden. Besonders schlimm waren zerschossenen Panzer, die man nachts aus dem Gefechtsgebiet ins Hinterland brachte. Sie waren in der Lage nicht nur die Leitung kaputt zu machen, sondern auch das eine Ende um ihre Räder zu wickeln und die Leitung so mit sich zu zerren. Man rannte dann mit dem einen Ende in der Hand die Leitung entlang bis zu der Stelle, an der sie zerbrochen war, doch das andere Ende ließ sich nicht finden. So lief ich nachts in der Steppe umher, in der man nichts sehen und sich noch nicht einmal orientieren kann. Viele Leitungen lagen dort in der Erde. Sie überkreuzten sich gegenseitig und verliefen in verschiedene Richtungen. Um sicher zu sein, dass ich auch die richtige Leitung erwischt hatte, musste ich mich an sie heranklemmen und dann die Station anrufen. Nein, nicht die, nicht die, nicht die! Wenn ich das zweite Ende gefunden hatte, hatte ich das erste schon wieder verloren. Das andere Mal kriegte ich im Hörer die Stimme des Leiters der Fernmeldeabteilung zu hören. In halbzensierter Version klang das dann in etwa so: Du Halunke! Du Blödmann und Schuft! Ich mach dich fertig, ich lass dich erschießen, wenn nicht auf der Stelle eine Verbindung hergestellt wird! Du Nichtsnutz! Her mit der Verbindung!

Freilich zu einem anderen Anlass spielte er, mein „Lieblingskommandeur“, mit mir die Szene einer Erschießung: Ich stand ganz dicht an einem tiefen Graben, gleich hinter dem Absatz meiner Stiefel ging es steil in die Tiefe. Der Kommandeur trat ganz dicht an mich heran, schaute mir in die Augen und blies mir ins Gesicht.

In der Nacht, wo man alles nur ertasten kann, waren alle Leitungen gleich. Man konnte nicht erkennen, welche die unseren waren und welche den Fremden gehörten. Wir hatten bei uns in der Division eine englische Leitung. Die Isolationshülle unterschied sich von denen aus heimischer Produktion, doch konnte man dies nicht mit der Hand erfühlen und auch nicht mit den äußeren Lippen. Ich lernte es deshalb, die Leitung, für die ich verantwortlich war, mit der Innenseite der inneren Unterlippe zu erkennen. Diese ist nämlich weicher und feinsinniger.

Aber wie sollte ich, in der einen Hand das zweite Ende der Leitung, das erste Ende finden, welches ich in die nächtliche Steppe geworfen hatte, als ich begonnen hatte, die Leitung entlang bis zur Bruchstelle zu laufen? Aber auch hier dachte ich mir etwas aus: an das erste Ende der Leitung stellte ich eine Granate, die nicht explodiert war (davon lagen überall genug herum). Damit ich sie aber in der Dunkelheit wiederfinden konnte, befestigte ich an den Zünder eines von den deutschen Flugblättern, die man rund um Stalingrad und in der Stadt selbst abgeworfen hatte. Dieser weiße „Fleck“ war in der Dunkelheit gut sichtbar. Er erleichterte die Suche erheblich. Die Zeit, die ich nun brauchte, um die Telefonverbindungen wieder herzustellen, konnte dadurch erheblich verkürzt werden.

Eines Tages kroch Lysenkow aus unserer Grube hinaus – er musste relativ oft hinauskriechen —  doch diesmal nahm er den Napf mit sich. Als er zurückkam, fragte er mich von draußen:

—  Wirst du das Wasser aus dem Teich mit dem krepierten Pferd trinken? Ich hab aus diesem Wasserloch was geholt.

—  Ja, trink ich! Gib her, ich pfeife drauf, woher das Wasser ist. Ich trinke es!

Unseren Bäuchen begann es, von diesem Tag an besser zu gehen: Lysenkow hatte schon bald kein Blut mehr in Stuhl und auch mein Bäuchlein fing an, sich besser zu benehmen. Daraufhin tranken wir nur noch das Wasser aus dem Teich mit der Pferdeleiche. Mögen sich Sanitäter und Ärzte über dieses Phänomen Gedanken machen. Für uns einfache Soldaten ist es eine simple Soldatenerfahrung geworden, so wie auch das Anbringen einer Granate am einen Ende einer zerrissenen Telefonleitung oder die Tatsache, dass auch ein deutsches Flugblatt als Markierung gute Dienste leisten kann, und noch vieles, vieles mehr, wie man zum Beispiel das Gezeter von Offizieren im Telefonhörer einfach an sich vorbeigehen lässt.

Der Rückzug. Die Schlacht von Stalingrad.

Ich beginne mit Ereignissen, die der Schlacht vorrausgingen und ohne die man sie nicht richtig verstehen kann. Diese Vorgeschichte ist relativ kompliziert und lang, doch sie hat den schweren Verlauf  der Schlacht von Stalingrad mitbestimmt. Die Schlacht war nach meiner Bewertung – und ich habe sie von Anfang bis zum Ende unmittelbar miterlebt — der Moment im Vaterländischen Krieg, ja im gesamten Zweiten Weltkrieg, der das Blatt gewendet hat.  Sie ist ein heldenhaftes Kapitel in der Geschichte unserer Armee – heldenhaft für all die Generäle und Soldaten, die unmittelbar auf den Schlachtfeldern mitgekämpft haben  — und eine große Schande für unser gesamtes Oberkommando.

Ich diente zunächst bei den Raketentruppen. Den ersten Winter hatte ich an der Wolchower Front gekämpft. Im Frühling hatte man uns von dieser Front abgezogen. Am 29. April waren wir in Moskau. An dieser Front waren wir indirekt unter dem Kommando des jetzt überall bekannten Generals Wlassow. In Moskau waren wir als einzelne Gardetruppe der Granatwerfer der 114. Division bis zum 3. Juni, als man uns völlig unerwartet in Alarmbereitschaft versetzte, in das 79. Heer überführte und am 5. Juni in den Süden schickte. Was an der Front geschehen war, wussten wir nicht. Wir hatten nur gehört, dass es bei Charkow „Kämpfe zur Verteidigung“ gegeben habe und dass unsere Truppen dem Gegner schwere Verluste bei den Soldaten und auch bei der Technik zugefügt hatten.

Zwischen Filonowa und Balaschow blieben wir stecken, weil die Deutschen inständig und voller Wut den Eisenbahnknotenpunkt Paramanowo bombardierten. Wir wurden durch diesen Bahnhof durchgeleitet und in Filonowa ausgeladen, was auch für die Kommandeure sehr spontan und unerwartet war. Ich befand mich unter den Aufklärern und unsere Aufgabe war es, der Division vorauszugehen und die Lage abzuklären. So machten wir uns also auf den Weg. Nach einiger Zeit stießen wir auf eine Gruppe Kavalleristen, ohne Karabiner und mit völlig zerschlissenen Mützen. Danach kamen auch die ersten Fußsoldaten, eine ganze Masse von ihnen. Einige von ihnen gingen aus irgendwelchen Gründen in Mänteln, die sie sich um die Schultern gebunden hatten, obwohl es an diesem Tage heiß war. Unter dem Mantel trugen sie nichts weiter.

Danach folgten auch die ersten Zivilisten und dann auch Vieh. Sie alle kamen uns entgegen. Es wurde Abend und der Staub der Straßen setzte sich in Wolken in den Niederungen ab. Nachts begaben wir uns in ein kleines Dorf, klopften in einem Häuschen am Dorfrand und baten um etwas zu Trinken. Man reichte uns statt Wasser sogar Milch und der Hausherr meinte zu uns, dass all von dort kämen und nur wir dorthin ziehen würden, an die Front. Am nächsten Tag das gleiche Bild, ganze Massen von Menschen, Vieh und Fuhrwerke begaben sich in Richtung Osten. Wir – ihnen entgegen. Dann verließen wir die große Trasse und gerieten bald in die Nähe von Pawlowsk. Das liegt südlich von Woronesh, am Don. Das Dorf hieß Gniluschi. Zwischen uns und den Bewohnern des Dorfes ergab sich ein sehr interessantes Verhältnis. Wir gaben ihnen Hering und sie uns Milch und Eier. In der Umgebung hatten die Getreidesilos gebrannt. Man erlaubte uns, von dort Korn zu entnehmen und es in den Mühlen zu Mehl zu mahlen. Die Bauern buken uns daraufhin aus diesem Mehl Brot. Wir zogen durch die Dörfer und machten uns hier und da nützlich. Überall gab man uns Milch zu trinken. Und wenn wir fragten, wie viel wir denn dafür zu bezahlen hätten, war die Antwort immer: „Nichts. Irgendwer wird’s uns vergelten“.

Die Division befand sich in einer schweren Lage. Wir hatten nicht genügend Waffen und Technik, um alle damit auszurüsten. Wir hatten aber einen glänzenden Organisator: Oberstleutnant Rogow. Er hatte bereits im Ersten Weltkrieg mitgekämpft. Er war der Stellvertretende Kommandeur und für die Technik verantwortlich.

Kurz bevor wir angekommen sind, hatte sich am Flussübergang bei Pawlowsk ein tragischer Unfall beim Überqueren des Dons ereignet. Der Übergangsstelle hatten sich zwei Heere genähert, die zuvor bei Charkow geschlagen worden waren, und begonnen miteinander über das Recht zu streiten, wer denn zuerst über den Don übersetzen darf. Der Streit artete in Prügeleien aus. Sie schlugen sich und bemerkten dabei nicht, dass auf einem Hügel die Deutschen erschienen waren und begannen, die Flussenge unter Beschuss zu nehmen. Als dann endlich alle begriffen hatten, dass es nun nichts mehr gab, wofür man sich noch hätte prügeln sollen, warfen sich die einen in den Fluss, um ihn schwimmend zu überqueren, andere blieben am Ufer. So blieben auch viele Waffen und Fahrzeuge auf dieser Seite des Flusses.

Unser Leutnant Rogow organisierte es, dass wir uns heimlich an das Ufer des Dons schlichen, das die Deutschen nun bereits erobert hatten, um aus den Wagen und Panzern, die am Ufer zurückgelassen worden waren, Zündungen, Batterien und noch anderes mehr auszubauen. Dies erledigten wir auf hervorragende Weise, wenn man es vom militärischen Gesichtspunkt her betrachtet. Rogow ließ uns antreten und fragte jeden einzelnen Soldaten: „Bist du dabei? Bist du dabei? Bist du dabei?“ – „Ja, Ja, Ja“. Doch plötzlich sagte irgendwer „Nein!“ und der Klang diesen Nein flog wie ein Funken von einem zum anderen. Doch niemand schaute verächtlich auf die Verweigerer und auch später wurde niemand dafür zur Verantwortung gezogen: Für Kundschafterdienste und solche besonderen Aufgaben werden nur solche herangezogen, die es sich auch zutrauen. Wer aber meint, es nicht zu packen, sollte lieber vorher Nein sagen, als sich in die Gefahr zu begeben und ihr dann nicht gewachsen zu sein. Dank dieser heimlichen Touren an das Ufer konnten wir einige Autos wieder in Gang bringen und die Division wurde insgesamt wieder mobiler. Eine Raketendivision, die sich nicht vom Fleck rühren kann und hinter der die Deutschen her sind, ist eine außerordentlich schwerwiegende und gefährliche Angelegenheit.

Was ist nun bei der Betrachtung der Geschichte des Krieges Wesentliches vergessen worden? Ein äußerst wichtiges und interessantes Phänomen ist die Psychologie der Soldaten in der Masse. Wenn man Shukow, Rokossowskij, Wasilewskij und andere Generäle von nicht so hohem Rang liest, dann werden dort die Namen von Einheiten genannt und man verweist auf einzelne Helden. Bei Schukow scheint alles wie ein Schachspiel zu sein. Es wird von Strategien und Kampftaktiken gesprochen. Bei Lebedjev kann man wenigstens noch den Atem einer Schlacht verspüren. Doch fast niemand macht sich Gedanken über die Psychologie der Soldaten in der Masse. Warum wohl habe ich bereits weiter oben schon einmal gesagt, dass die Schlacht von Stalingrad eine große Schande für das Oberkommando war?

Boris Nikolaewitsch Schaposchnikow, der Leiter des Generalstabs,  — er hatte 1919 die Generalstabsakademie beendet — hatte vorgeschlagen, das Jahr 1942 zu einem Jahr der strategischen Verteidigung zu machen, denn wir hätten keine Kräfte, um anzugreifen. Man müsse zuerst einmal Soldaten und Technik zusammenziehen und im tiefen Hinterland Fabriken eröffnen und ansiedeln, dabei jedoch aktiv bleiben an einigen Teilen der Front. Dieses Konzept fand völlige Zustimmung bei Schukow, doch nicht alle erklärten sich mit ihm einverstanden. Während noch diskutiert wurde, ließen zwei unserer „großen“ Feldherren, Timoschenko und Chruschew, Stalin die Information zukommen, dass sich bei Charkow eine günstige Lage für einen Angriff ergeben habe, der das Blatt in diesem Krieg zu unseren Gunsten wenden könnte. Schaposchnikow beharrte weiterhin kategorisch auf sein Konzept und begründete es damit, dass man solche Fragen nur entscheiden könne, wenn man die allgemeine Lage in allen Kriegsgebieten in Betracht zieht. Stalin entzog daraufhin dem Generalstab seine Bevollmächtigung für die Militäroperationen an der Südwestfront, und am 12. Mai starteten die Truppen dort einen Angriff. Schaposchnikow erstattete Stalin Bericht bezüglich der Lage an allen Fronten außer dem Teil bei Charkow. Stalin wiederum berichtete dem General, dass „unsere im Raum Charkow erfolgreich zum Angriff übergegangen sind“. Ja, der Angriff verlief zunächst erfolgreich – in den ersten Tagen. Doch in der Nacht vom 19. zum 20. August erreichte ein Anruf die Metrostation „Kirowskaja“, wo sich der Generalstab befand. Per Telefon wandte sich einer der großen Heerführer an den Stellvertreter von Schapownikow: „Gestatten Sie, dass wir unsere Truppen zurückziehen. Die Deutschen haben begonnen, uns an den Flanken stark zu schlagen“. Der Stellvertreter antwortete, dass der Generalstab, wie bekannt, nicht befugt ist, Entscheidungen zu treffen, die den südwestlichen Raum betreffen. Er müsse sich dann schon an den Obersten wenden. Chruschew (er war es) antwortete: „Wir haben uns an ihn gewandt, doch er hat es verboten. Er hat befohlen, den Angriff weiter fortzusetzen. Doch das hat keinen Sinn mehr“. Alles endete damit, dass unsere Truppen eingekesselt wurden. Die einen konnten sich aus der Umzingelung befreien, andere liefen einfach nur fort, wohin ihre Füße sie trugen. Die Armee war daraufhin auf furchtbare Weise demoralisiert und nur deshalb konnte es zu der Schlägerei zwischen unseren Leuten an der Flussenge von Pawlowsk kommen.

Im September 1942 fiel mir ein Flugblatt der Deutschen in die Hände, auf dem geschrieben stand, dass Marschall Timoschenko 1.722.000 Soldaten in die Gefangenschaft hat geraten lassen. Für den Angriff bei Charkow erhielt er einen Orden. Bei dessen Verleihung hatte er gemeint, dass er weiterhin so gegen die Deutschen kämpfen wird. Im Flugblatt hieß es weiter: „Wir freuen uns sehr, wenn er so gegen uns kämpfen wird, wie bei Charkow“. Es ist schwer zu sagen, ob die Zahlen stimmten (die Propaganda war auf beiden Seiten nicht gerade für wahrheitsgemäße Wiedergabe von Fakten bekannt), doch trotzdem war die Zahl derjenigen, die in Gefangenschaft geraten waren, sehr groß.

Im Juli wurden wir eilig in den Süden verfrachtet. Wir kamen an das Steilufer des Dons. Hauptmann Djatlow meinte, dass hier die Deutschen gewesen seien, jedoch zurückgedrängt worden sind und dass wir so zu spät gekommen seien. So waren wir gezwungen in Gruppen und im Pendelverkehr wieder fortzufahren, denn wir hatten nicht genügend Fahrzeuge, um sofort die gesamte Division in einem Ritt zu transportieren. Unsere Kfz-Meister, Fahrer und Mechaniker taten aber wahre Wunder und brachten als wahre Helden zerstörte Autos wieder in Gange. Gefahren sind wir folgendermaßen: wir banden einen an den Kotflügel fest, der sich dann während der Fahrt am Motor zu schaffen machten und so das Kaputtgehen des Motors verhinderte.

Wir befanden uns bei Kalatscha, am linken Ufer des Dons, gegenüber von Stalingrad. Die mobilen Einheiten traten an den Don hinaus, die Deutschen ebenso. Man ließ unsere Truppe antreten, wie ebenso die 1. Panzerarmee, der wir Unterstützung leisten sollten. Es war nach dem 28. Juli, an dem  Stalin den berühmt gewordenen Befehl 227 unterzeichnet hatte. Er wurde uns, nachdem wir angetreten waren, vorgelesen. In ihm hieß es, dass es keine Möglichkeit gebe, zurückzuweichen und dass die Armeen der Südwestfront Schande über sich geladen hätten. Die Armee war in Panik.

Unsere Aufgabe war es, die Deutschen vom Don zurückzudrängen. Am 31. Juli und am 1. August verliefen die Kämpfe recht erfolgreich. Schwer war es an der rechten Flanke, wo die Deutschen uns zurückwerfen wollten, um den Don im „Kessel“ einnehmen zu können. Ich war an der rechten Flanke und nach dem Mittag brachte man uns plötzlich Soldaten von der linken. Bei vielen war die linke Hand durchschossen: diese Soldaten hatten die Hand erhoben und gewartet bis eine Kugel sie trifft, damit sie für kampfuntüchtig erklärt würden.

Auch am Don wurde die Lage immer schwieriger. Die Deutschen griffen aggressiv an und zwangen uns, uns zurückzuziehen. Dem Befehl 227 jedoch zu Folge sollte jeder Kommandeur, der den Rückzug anordnet, ohne dafür die Erlaubnis von einem ihm höher Gestellten zu haben, erschossen werden. Zu diesem wurde nun auch bei uns nach deutschem Vorbild eine Feldpolizei eingeführt. Unser Kommandeur befand sich in einer äußerst schwierigen Situation, denn er war ohne Verbindung zu einem ihm übergestellten Kommando. Er saß etwas abseits, hatte den Kopf in beide Hände gestützt und wusste nicht, was er tun sollte: Es war ganz offensichtlich, dass man den Rückzug befehlen müsse, aber da gab es ja nun den Befehl 227. Doch wenn er die Leute nicht aus dem Kessel führt, dann werden massenweise Soldaten sterben und Fahrzeugtechnik wird verloren gehen. Nach einer gewissen Zeit gab er den Befehl zum Rückzug. Er hatte diese Entscheidung in erster Linie als Mensch getroffen.

Wir begannen uns zurückzuziehen. Wir vom Telefondienst kümmerten uns um die Wiederherstellung einer Telefonverbindung. Die gesamte Steppe brannte von den deutschen Brandbomben. Wir zogen in den dunklen Nächten von Anfang August unter einem leuchtenden Sternenhimmel und verfolgt von kreuz und quer fliegenden Kugeln und Granaten über die Steppe. Allmählich wurde unser „Kern“ immer größer durch Soldaten, die andernorts von ihrer Truppe abgekommen waren.

Drei Tage dauerte die Hölle bei Kalatsch. Unsere Panzer versuchten zurückzuschießen und sich in die Erde einzugraben: denn fahren konnten sie nicht mehr, weil es kein Benzin mehr gab. In der ganzen Gegend flogen die Geschoße wild durch die Luft.

Die Soldaten liefen in der Steppe. Ein Schwerverletzter lag auf dem Boden und stöhnte unaufhörlich: „Trinken, trinken, trinken …“ auf seinem Bauch jedoch stand ein völlig verstaubter Becher voll mit Wasser. Um ihn herum versammelten sich Soldaten. Keiner wusste, was man mit dem Verletzten machen sollte. Einer von den Soldaten entschloss sich, seinen Kameraden durch einen Kopfschuss zu erlösen. Der Körper bäumte sich noch einmal auf, doch dann war er tot. Der Krieg ist etwas Furchtbares. Er ist schonungslos und grausam.

Drei Tage hatte die Verteidigung des Ufers des Dons gedauert. Wir wurden unaufhörlich bombardiert. Dadurch verloren wir viele Soldaten und Offiziere. Selbst schießen konnten wir nicht, denn wir hatten nur unsere „Katjuschas“, aber diese verrieten dem Feind sofort unsere eigene Position. In der Division ereignete sich in diesen Tagen eine Tragödie. Der Kommandeur, der für das militärische Gerät zuständig war, während des Bombardements verschwand und sich nach drei Tagen im Hinterland gemeldet hatte, wurde erschossen. Daraufhin tauchte auch der Fahrer des LKWs mit den Granaten, der in den Graben gekippt war und den die Leitung zunächst nicht zu fassen bekommen hatte, mit seinem Beifahrer wieder auf. Die Soldaten rieten ihm: „Lauf von hier fort!“ Der Fahrer sollte erschossen werden, doch der Kommissar sagte: „Es reicht mit dem Blutvergießen!“ — und so kämpfte der Fahrer bis ans Kriegsende mit uns und blieb am Leben.

Wir waren gerade dem Beschuss aus der Luft entkommen, da verlegte man unsere Division an das rechte Ufer des Dons, nördlich von Kalatsch, in die Kosakensiedlung Sirotinska, und gab uns den Befehl, dort den Panzern und Maschinengewehrschützen der Deutschen entgegenzutreten, damit sich hinter uns die Infanterie verschanzen könne. Wir fuhren auf einen Hügel. Uns entgegen Panzer und  Maschinenpistolenschützen. Die Hölle ging los. In der Kosakensiedlung jedoch war nach wie vor Leben. Ich konnte beobachten, wie aus einer Kellerluke ein alter Mann seinen Kopf hervorstreckte, um ein Kälbchen zu sich zu ziehen, dass durch das Krachen der Geschoße, durch den Rauch und die Flammen dabei war, irre zu werden. Die Tür zur Kellerluke fiel dem Alten immer wieder auf den Kopf. Schon zwei Mal hatten wir einem Zweikampf mit Panzern und Maschinengewehrschützen standgehalten. Wir hatten sieben Panzer in Flammen gesetzt und einige von den Unseren dabei verloren: auch den Kommissar, und den Kommandeur der Einheit. Nachdem wir den Befehl ausgeführt hatten, legten wir uns zum Ausruhen etwas hin, wieder unter dem Ansturm der Panzer und neben der Leiche unseres Kommissars.

Eines Tages waren wir dann in Stalingrad. Es verblüffte uns, dass auf offenem Feld zwischen Wolga und Don tagsüber Befestigungsarbeiten im Gange waren, über denen die deutschen Erkundungsflugzeuge, die berühmten „Rams“, wie Geier kreisten.

Wir standen am Stadtrand. Dort gab es eine Kirche. Sie war bisher noch heil geblieben und hatte einen Glockenturm. Da sahen wir auf einmal am Himmel unseren „Balotschnik“, eine U-2 (Geschwindigkeit 120km/h). Hinter ihm her jagte eine „Messerschmidt“, die 550km/h schnell ist. Unser Flugzeug kreiste um den Glockenturm und die „Messer“ nahm es unter Beschuss, doch konnte es nicht treffen. Wir waren begeistert von dem Können unseres Piloten, denn die Pilotenkabine einer U-2 ist offen. Ich bin später in solchen Flugzeugen geflogen, als ich als Geologe gearbeitet habe. Letzten Endes musste der Deutsche aufgeben und hat abgedreht.

Wir wurden in das Gebiet der kleinen Krümmung des Dons geschickt, in die Kosakensiedlungen Nowogrigorewsk und Starogrigorewsk, mit der Aufgabe, die Deutschen vom Don zurückzuwerfen. Wir, damit meine ich die Fernmeldeabteilung. Man schickte uns immer der Infanterie voraus. Plötzlich verbreitete sich die Kunde: „Die Deutschen sind in Stalingrad“. Von unserer Raketendivision waren einige in Stalingrad, andere im Raum Kirsowki und wieder andere bei den Kosakensiedlungen von Grigorjewsk, nördlich von Kalatsch. Wie konnten die Deutschen bis nach Stalingrad vorgedrungen sein? Sie waren angeblich mit ihren Panzern eingedrungen, hatten den Markt im Norden der Stadt eingenommen und auch die Versorgung, die von Norden gewährleistet wurde, abgeriegelt. Es kursierten andere Gerüchte, dass diese in die Stadt eingedrungenen Deutschen, unsere Panzer, sowie „Katjuschas“ und Laster mit Munition in ihre Hände gebracht haben sollen. Doch später, als sie selbst schon in den Kessel geraten waren, wurde von ihrer Seite mit solcher Munition nicht geschossen.

Die Schlacht von Stalingrad … eine furchtbarer Kraftakt für beide Seiten. Auf die Psyche wirkte besonders der ständige Leichengeruch, der durch alle Ritzen drang. Innerhalb von anderthalb Monaten brannten in der Stadt sämtliche Lager und über der Stadt hing eine schwarze Rauchwolke. Auf den Straßen ergossen sich ganze Ströme von Motoröl. Die gesamte Niederung Tschujkowa war damit vollgelaufen.

Bei der Ausführung des Befehls, die Deutschen aus dem Gebiet um den Markt zurückzudrängen, wurden wir von der 99. Schützendivision unterstützt, über die vor dem Krieg General Wlassow das Kommando geführt hatte. Diese Division war die beste in der Roten Armee. Sie war mit dem Ehrenbanner des Volkskommissariats ausgezeichnet worden. Die Offiziere prahlten vor uns: „Wir sind die von Wlassow!“

Die Kämpfe um den Markt begannen am 21. September. Wir wurden von einer Panzerbrigade unterstützt, doch innerhalb von drei Tagen waren wir lediglich 800 Meter vorangekommen, obwohl wir zu Beginn der Kämpfe das ganze Sortiment an Waffen zu Verfügung hatten, so, wie es vor dem Krieg war: 800 Bajonette im Bataillon und jede Nacht erhielt unsere Division Nachschub. Am Ende der ersten drei Tage jedoch waren uns im Bataillon nur etwas 200 Bajonette geblieben und es waren mehr Soldaten gefallen, als eine Division zählt. Die Deutschen kämpften heldenhaft. Sie nahmen im wahrsten Sinne des Wortes unsere Panzer mit den Händen ein und zerschlugen an ihnen Flaschen mit einer brennbaren Flüssigkeit. Unsere Opfer hatten aber nichts genützt, denn die rechte Flanke blieb zurück und war die 800 Meter nicht vorangekommen. Die Deutschen schlugen auf die rechte Flanke ein und so mussten auch wir die 800 Meter, für die wir so viel Blut vergossen hatten, wieder hergeben und uns zurückziehen.

Am nächsten Tag warteten wir auf einen neuen Befehl. Ich wanderte durch die Steppe und fand ein Flugblatt. Obwohl es verboten war Flugblätter aufzuheben und sie zu lesen, überflog ich es mit den Augen: „An die Kämpfer und Kommandeure der 99. Schützendivision“. Ich drehte das Blatt um und schaute auf die Unterschrift: „Der ehemalige Kommandeur der 99. Schützendivision Generalleutnant Wlassow“. Auf dem Blatt stand weiterhin geschrieben: „Ich habe gekämpft und bin in einen Hinterhalt geraten. Danach habe ich begriffen, dass  weiterer militärischer Widerstand sinnlos ist, und habe daher den Befehl gegeben, die Waffen niederzulegen. Lange Tage des Nachdenkens brachten mich zu dem Schluss: Die Rote Armee kann nicht siegen, denn eine Armee braucht einen einzigen Oberbefehlshaber. Allen unseren Kommandeuren sind jedoch Hände und Füße gebunden durch irgendwelche Kommissare und Arbeiter in irgendwelchen Organen, die von Kriegsführung überhaupt keine Ahnung haben. Das russische Volk aber hat die Kraft sich zu befreien, denn es gibt nun eine Freiwilligenarmee. Man sollte mit den Deutschen einen ehrenhaften Frieden schließen und mit ihnen zusammenarbeiten“. Am Ende hieß es dann noch: „Das Nachkriegsrussland sollte ein Russland sein ohne Bolschewiki und Deutsche“. Natürlich empfanden die Kommandeure der 99. Division nach einem solchen Flugblatt schon keinerlei Stolz mehr, die Schüler Wlassows gewesen zu sein.

Uns plagte die deutsche Luftwaffe: Etwa 28 Mal am Tag wurden wir von 10 bis 100 Bombern überflogen und angegriffen. Der erste Überflug war noch nicht schlimm, der zweite dann aber schon und während des dritten begannen alle zu bangen und mit jedem weiteren die Nerven zu verlieren. Solche Luftangriffe haben eine kolossale psychologische Wirkung: Es schien, als ob die Bomber direkt über einem im Sturzflug niedergingen. Der Pilot schaltete die Sirene ein, es prasselte Granaten und Bomben. Es gab aber dabei auch etwas Gutes: oft explodierten die Sprengkörper nicht. In ihnen war statt des Sprengstoffs Zement und ein Zettel angebracht: „Wir helfen, womit wir können“. Das war die Arbeit von Kriegsgefangenen, die für deutsche Fabriken arbeiteten — Franzosen, Tschechen und andere.

Ich erinnere mich noch an eine Situation, als zwei von unseren Jagdflugzeugen plötzlich auftauchten und zwei deutsche Flugzeuge abschossen. Ein drittes nahm Reißaus. Unser Kommandeur sagte zu sich selbst: „Es ist ein Krieg der Motoren heutzutage“. Auch Stalin sprach ständig von einem Krieg der Motoren. Daraufhin meinte Oberst Wladimirow, der Kommandeur der 99. Schützendivision, bitter: „Wir werden aus der Luft von der 8. Luftarmee unterstützt. Vielleicht hat die 8. genauso viele Flugzeuge, wie viele die 87. Panzerbrigade Panzer hat? (Die hatte aber leider nur einen von der Sorte KW, und auch der war vom Kampf halb zerstört.)

Es wurde Herbst. Der Oktober begann und mit ihm kam der Regen. Nach der vernichtenden Niederlage von Kalatsch lagen ein Soldat und ich unter ein paar Büschen, noch ganz erschöpft von den vorangegangenen Kämpfen. Plötzlich sagte der Soldat zu mir: „Ich denke, wir werden nicht die Kraft haben zu siegen“. Ich antwortete ihm: „Du selbst nur hast keine Kraft zu siegen“. Das sind so feine Nuancen in der Psychologie von Soldaten. Manchmal, wenn es die Lage erlaubte, brachte man uns ins Hinterland. So gab man einzelnen Einheiten die Möglichkeit, etwas auszuruhen. Wir wurden dann einige Kilometer von der Front weg ins Hinterland verfrachtet. Einmal war auch ich einer der Glücklichen. Wir schälten Kartoffeln und sprachen miteinander. An diesen freien Tagen war der Roman „Krieg und Frieden“ von allen sehr begehrt. Ebenso ein Buch über Kutusow. Ich mochte „Krieg und Frieden“ sehr. Vor dem Krieg hatte ich den Roman ganze drei Mal durchgelesen. Während wir die Kartoffeln schälten, erzählte ich vom Jahr 1812. Die anderen fragten mich: „Und du meinst, dass wir siegen können?“ Ich antworte ihnen: „Lasst uns doch einmal nachdenken! War nicht der September einfacher als der August? Ja? Also wird es im Oktober noch einfacher werden, als im September und im November noch leichter sein als im Oktober. Folglich also geht den Deutschen die Kraft aus, das können wir fühlen. Das bedeutet wiederum, dass wir neue Kräfte sammeln können, um dem Deutschen dann eine rüber zu ziehen“. Vielleicht war das Empfinden, dass die Deutschen schwächer werden, vor Stalingrad stärker als an anderen Fronten, denn beide Seiten hatten ihr Hauptaugenmerk auf Stalingrad gerichtet: wir und die Deutschen. Eine solche Propagandaarbeit leistete der „parteilose Halunke“, wie man solche wie mich nannte. Denn ich war weder Mitglied des Komsomol noch der Partei.

Am 26. November waren die Deutschen eingekreist. Der Don war schon am Zufrieren. Am 25. und 26. war starker Schneesturm, was unseren Truppen beim Vorwärtskommen behilflich war. Es wurde damit begonnen, den Kessel zu schließen. Dabei war es wichtig, die Deutschen, die außerhalb des Kessels verblieben waren, unter allen Umständen daran zu hindern, unsere Verteidigungslinie zu durchbrechen.

Die Kundschafter hatten herausgefunden, dass etwa 220 Tausend Deutsche eingekreist worden waren. Dann waren es schließlich 330 Tausend. Am 10. Januar wurde den Deutschen ein Ultimatum gestellt. Um 8.05 Uhr begann das Training der Artillerie, wonach unsere Truppen zum Angriff übergingen. An dem Teil der Front, an dem ich war, gab es 120 Kanonenrohre pro laufenden Kilometer Frontlinie, ohne dabei die Katjuschas zu zählen. Die Erde bebte. Zu Beginn war die Frontlinie etwa 200 bis 300 Kilometer lang. Dann wurde sie immer enger gezogen. Die Deutschen hatten den Flughafen, auf dem Flugzeuge starten und landen konnten, die ihnen Nachschub an Waffen und Lebensmittel brachten, in ihrer Hand. Doch es war zu wenig. Und so starben viele deutschen Soldaten an Erschöpfung und Erfrieren, obwohl sie im Kampf ihr Letztes gaben. Viele fielen einfach zu Boden und starben, ohne verletzt zu sein.

Wir hingegen waren sehr gut ausgestattet. Jeder von uns, vom Soldaten bis zum General, hatte ein paar Filzstiefel. Der Winter war sehr streng und die Heldentaten des Hinterlandes drückten sich für mich in jenem Paar Filzstiefeln für jeden aus. Die Deutschen waren einfach nur in Lederstiefeln, noch dazu mit Nägeln, damit sich die Sohle nicht abreibt. Ihre Füße erfroren sofort. Bei uns hatte jeder Soldat drei Mal Wäsche, Wattehosen, eine Wattejacke und eine aus Wolle gestrickte Mütze, die man unter dem Helm tragen konnte, sowie eine Pelzmütze, bei denen man die Ohren herunterklappen konnte und Handschuhe. Die Deutschen kämpften mit bloßen Händen.

Denn sie hatten sich auf die Winter nicht vorbereitet, weil sie auf einen Blitzkrieg spekuliert hatten. Man hatte ihnen zwar Kleidung geschickt, doch diese dann nicht an die Soldaten weitergegeben, damit sie nicht anfangen zu glauben, dass der Krieg eine längere Angelegenheit werden wird. Mächtige Kämpfe gab es in der Rossoschka und bei dem Dörfchen Nowoaleksejewskij. Die Deutschen leisteten dort erheblichen Widerstand. Aus einem Punkt feuerte ein Maschinengewehrschütze ganze Salven ab und metzelte die unseren einem nach dem anderen nieder. Endlich gelang es einem Moslem von uns bis zu diesem Schützen vorzudringen. Er führte ihn mit dem Dolch seines Bajonetts bis direkt vor unsere Soldaten.

Vom 15. Januar an begannen sich die Deutschen in Gefangenschaft zu begeben. Sie waren völlig ausgehungert. Suppe und Wasser, das war ihre ganze Kost. Wir gaben ihnen einen ganzen Leib Brot für 10 Mann. Bei den deutschen Kriegsgefangenen herrschte Ruhe und Ordnung, nicht so wie bei den Rumänen. …

Uebersetzt von Henrik Hansen
www.deu.world-war.ru

Comments (login)